Der Löwe und die Mücke
Eine Mücke forderte mit den übermütigsten Worten einen Löwen
zum Zweikampf heraus: "Ich fürchte dich nicht, du großes Ungeheuer",
rief sie ihm zu, "weil du gar keine Vorzüge vor mir hast; oder nenne
sie mir, wenn du solche zu haben glaubst; etwa die, daß du deinen Raub
mit Krallen zerreißest und mit Zähnen zermalmest? Jedes andere feige
Tier, wenn es mit einem Tapfern kämpft, tut dasselbe, es beißt und
kratzt. Du sollst aber empfinden, daß ich stärker bin als du!"
Mit diesen Worten flog sie in eines seiner Nasenlöcher und stach ihn so
sehr, daß er sich vor Schmerz selbst zerfleischte und sich für überwunden
erklärte.
Stolz auf diesen Sieg flog die Mücke davon, um ihn aller Welt auszuposaunen,
übersah aber das Gewebe einer Spinne und verfing sich in demselben. Gierig
umarmte die Spinne sie und sog ihr das Heldenblut aus. Sterbend empfand die
Mücke ihre Nichtigkeit, indem sie, die Besiegerin des Löwen, einem
so verächtlichen Tiere, einer Spinne, erliegen mußte.
Der Löwe, Wolf und Fuchs
Ein alter Löwe lag krank in seiner Höhle; alle Tiere besuchten ihn;
nur der Fuchs zögerte. Der Wolf ergriff diese erwünschte Gelegenheit,
seinem Todfeind zu schaden, und brachte die harte Klage gegen ihn vor: es sei
Stolz und Verachtung, daß er seinem Herrn und König nicht den schuldigen
Besuch mache.
Wie der Wolf noch so sprach, kam gerade der Fuchs dazu und vernahm aus dem Schluß
der Rede, daß er verleumdet worden sei. Kaum sah er den Zorn des Löwen,
als er auch schon schnell eine List bei der Hand hatte, sich zu verteidigen.
Demütig bat er den Löwen um die Erlaubnis, reden zu dürfen, und
als er sie mit Mühe erhalten hatte, sprach er:
"Gibt es wohl ein Tier, das mehr um das Leben unseres großmütigen
Königs besorgt wäre als ich? Kaum hatte ich Kunde von Eurer Krankheit
erhalten, als ich auch schon unermüdlich nach einem Mittel suchte, Eure
Gesundheit herzustellen. Glücklich habe ich es vor einer Stunde gefunden."
Bei dieser Rede legte sich der Zorn des Löwen, und er fragte schnell, was
das für ein Mittel sei.
"Hülle deinen Bauch und deine Rippen", sagte der Fuchs, "in
eine frisch abgezogene, noch warme Wolfshaut, so bist du wiederhergestellt."
Erfreut ließ der Löwe dem Wolf lebendig die Haut abziehen. Dies Geschäft
besorgte der Fuchs selbst und raunte dem Wolf zu: "Wie du mir, so ich dir."
Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.