Der Adler und der Fuchs
Ein Adler horstete auf einer hohen Eiche, und der Fuchs hatte sein Loch unten
an derselben. Diese Nachbarschaft schien eine Freundschaft zur Folge zu haben.
Aber ach, wie wenig aufrichtig war sie!
Als der Fuchs einmal des Abends auf Raub ausging, und der Adler gerade diesen
Tag über aus Mangel an Beute mit seinen Jungen hatte fasten müssen,
so glaubte er, der Hunger hebe jede Rücksicht der Freundschaft auf, stürzte
sich auf die Füchschen, trug sie in seinen Horst und verschlang sie mit
seinen Jungen; ein leckeres Mal für sie und ihn! Kaum war der Fuchs zurückgekehrt,
als er auch seine Jungen vermißte und den Frevel sogleich ahnte.
Ergrimmt über diese Verletzung der Freundschaft und von seinem Schmerz
getrieben, stieß er eine Flut von Schmähungen gegen seinen früheren
Freund, der nun sein heftigster Feind geworden war, aus, weil er sonst kein
Mittel sah, sich zu rächen - und flehte den Zorn der Götter auf den
Adler herab.
Ruhig, mit höhnischer Miene, schaute der Adler auf den erbitterten Fuchs
und ahnte nicht, daß so bald die verdiente Strafe folgen würde.
In der Nachbarschaft war nämlich ein Fest, und die Landleute opferten ihren
Göttern. Als die Eingeweide angezündet wurden, flog der Adler hinzu,
raubte nach seiner Gewohnheit ein Stück und trug es in sein Nest. Allein
ohne sein Wissen war glimmende Asche an diesem Stück hängengeblieben;
sein Horst fing schnell Feuer, und da gerade ein heftiger Sturm wütete,
so war das Nest bald von den Flammen verzehrt; die halbgebratenen Jungen fielen
herab, und der Fuchs verzehrte sie vor den Augen des Adlers.
Dem Verbrecher wird sein Lohn.
Das Schilfrohr und der Ölbaum
Über Stärke, Festigkeit und Ruhe stritten sich ein Schilfrohr und ein Ölbaum. Das Rohr, welches von dem Ölbaum darob getadelt ward, daß es aller Stärke entbehre und leicht von allen Winden hin und her bewegt werde, schwieg und sagte kein Wort. Nach einer kleinen Weile erhob sich ein heftiger Sturm; das hin und her geschüttelte Rohr hatte den Windstößen nachgegeben und blieb unbeschädigt, der Ölbaum dagegen, welcher sich den Winden entgegengestemmt hatte, wurde durch deren Gewalt gebrochen.