Die Schildkröte und der Hase
Eine Schildkröte, wegen ihrer Langsamkeit von einem Hasen gehöhnt,
wagte es doch, ihn zu einem Wettlauf herauszufordern, den er auch, mehr aus
Scherz als aus Prahlerei, annahm. Der Tag des Wettlaufs kam; das Ziel wird bestimmt,
beide betreten in dem nämlichen Augenblick die Bahn.
Die Schildkröte kriecht langsam, jedoch unermüdlich fort: der Hase
legt sich, um den Hohn gegen die Schildkröte aufs höchste zu treiben,
nach unendlich vielen Seitensprüngen, nur noch wenige Schritte vom Ziele
entfernt, in das Gras nieder und schläft aus Mattigkeit ein, bis er durch
der Zuschauer lauten Jubel geweckt, die Schildkröte bereits oben an dem
Ziel erblickt.
Schon sah er sie zurückkehren, ging aber aus Scham auf die Seite und gestand
frei: in seinem zu großen Vertrauen auf seine Behendigkeit habe ihn das
langsamste Tier von der Welt beschämt.
Oft werden gute, aber flatterhafte Köpfe von mittelmäßigen,
aber anhaltend fleißigen, eingeholt, ja übertroffen.
Die Schlange und der Landmann
Eine Schlange, welche ihren Verschlupf im Vorhofe eines Landmannes hatte, tötete
dessen kleines Kind, worüber die Eltern in tiefe Trauer gerieten. In seiner
Betrübnis ergriff der Vater ein Beil und wollte die Schlange, sobald sie
hervorkäme, totschlagen. Wie sie nun den Kopf ein wenig herausstreckte,
wollte er schnell auf sie loshauen, allein er verfehlte sie und traf nur die
Öffnung ihres Schlupfwinkels. Nachdem sich die Schlange wieder in ihr Loch
zurückgezogen hatte, glaubte der Landmann, sie denke nicht mehr an die
Beleidigung, nahm Brot und Salz und setzte es vor die Höhle. Die Schlange
aber zischte ganz fein und sprach. "Nun und nimmer kann Zutrauen und Freundschaft
zwischen uns bestehen, solange ich den Stein sehe und du das Grab deines Kindes."
Die Fabel lehrt, daß niemand Haß und Rache vergißt, solange
er ein Denkmal dessen, was ihn in Betrübnis versetzte, vor Augen hat.