Die Taube und die Krähe
Eine Taube brüstete sich unter andern Vögeln mit ihrer Fruchtbarkeit:
"Ich brüte", sagte sie, "jährlich acht bis zwölf
Junge aus, atze sie, lehre sie fressen und fliegen, fliege mit ihnen auf die
Kornfelder und lebe froh mit Kindern, Enkeln und Urenkeln, während ihr
andern Vögel kaum ein Paar aushecket!"
"Still!" sagte eine Krähe, die dies mit anhörte, "prahle
doch ja nicht mit einem Gegenstand, der dir so unendlich viel Kummer und Leid
verursacht! So viele Junge du hast, so viele Male hast du Trauer anzulegen.
Kaum haben sie die ersten Federn, so sind sie auch schon auf den Tafeln der
Menschen."
So ist's im Leben: Kurze Freud, viel Leid und doch halten die Freuden unserem
Gedächtnis länger nach.
Die Schlange und der Landmann
Eine Schlange, welche ihren Verschlupf im Vorhofe eines Landmannes hatte, tötete
dessen kleines Kind, worüber die Eltern in tiefe Trauer gerieten. In seiner
Betrübnis ergriff der Vater ein Beil und wollte die Schlange, sobald sie
hervorkäme, totschlagen. Wie sie nun den Kopf ein wenig herausstreckte,
wollte er schnell auf sie loshauen, allein er verfehlte sie und traf nur die
Öffnung ihres Schlupfwinkels. Nachdem sich die Schlange wieder in ihr Loch
zurückgezogen hatte, glaubte der Landmann, sie denke nicht mehr an die
Beleidigung, nahm Brot und Salz und setzte es vor die Höhle. Die Schlange
aber zischte ganz fein und sprach. "Nun und nimmer kann Zutrauen und Freundschaft
zwischen uns bestehen, solange ich den Stein sehe und du das Grab deines Kindes."
Die Fabel lehrt, daß niemand Haß und Rache vergißt, solange
er ein Denkmal dessen, was ihn in Betrübnis versetzte, vor Augen hat.