Die wilde Ziege und der Weinstock
Eine wilde Ziege flüchtete sich, von Hunden verfolgt, in einen Weinberg
und verbarg sich unter den Blättern eines Weinstockes. Die Hunde stürzten
vorbei, und sie entging ihren Verfolgern.
Kaum glaubte sie sich außer Gefahr, als sie sich auch schon über
die Reben hermachte und die Blätter fraß, die kurz vorher sie so
treulich versteckt hatten. Dieses Geräusch machte den Jäger aufmerksam,
der etwas zurückgeblieben war. Er entdeckte auch bald die Ziege und erlegte
sie.
"Ach!" seufzte sie sterbend, "mit Recht habe ich diese Strafe
verdient, weil ich meinen Beschützer mit schnödem Undank belohnte."
Es ist das größte Unrecht, Wohltaten mit Übel zu vergelten;
der Undankbare entgeht selten der verdienten Strafe.
Die Ziege und der Ziegenhirt
Ein Ziegenhirt musterte seine Ziegen, bevor er sie austrieb. Eine derselben
hatte es sich gut schmecken lassen und sehr viel gefressen. Sie ging daher langsamer
als die andern und blieb zurück.
Der Hirt ärgerte sich über ihre Langsamkeit, und da er nicht lange
auf sie warten wollte, hob er einen Stein auf und warf nach ihr. Unglücklicherweise
traf er das eine Horn, daß es abbrach. Kaum geschehen, bereute er seine
Unvorsichtigkeit und bat die Ziege, doch ja nichts ihrem Herrn zu klagen.
"Sei doch gescheit", antwortete die Ziege, "wenn ich auch nichts
davon sagen wollte, so würde doch das fehlende Horn dich anklagen."
Wo Taten sprechen, laßt sich das einmal Geschehene nicht verhehlen.