Alfred Döblin

*10. August 1878 Stettin
+26. Juni 1957 Emmendingen begraben: Housseras (Ostvogesen), Dorffriedhof
Aus jüdischem Elternhaus; viertes von fünf Kindern des Schneidermeisters Max Döblin (1846-1921) und seiner Frau Sophie, geb. Freudenheim (1844-1920); Vater musisch begabt, pragmatisch-rational eingestellte Mutter hat für die künstlerischen Neigungen ihres Mannes bzw. später ihres Sohnes kein Verständnis; die Flucht des Vaters wird für den Zehnjährigen zum prägenden Erlebnis.
Leben voller politischer und weltanschaulicher Widersprüche mit abrupten Wendungen: vor dem 1. Weltkrieg national begeistert, danach Sozialist mit pantheistischer Weltsicht; erhofft die Rettung vor dem Faschismus von einem Erwachen der Intellektuellen; innere Annäherung an das Judentum erst in den zwanziger Jahren; auf der Polenreise 1924 Konfrontation mit christlichen Glaubensinhalten; aufgrund eines visionären Erlebnisses Konversion zum Katholizismus; wird in den Exilländern genauso wenig heimisch wie in Deutschland.
1912 Ehe mit Erna Reiss (+1957; Tochter eines wohlhabenden Fabrikanten); vier eheliche Söhne: Peter (*1912), Wolfgang (*1915, +1940), Klaus (*1917), Stephan (*1926); unehelich: Bodo (*1911)
Einer der maßgeblichen Autoren des Expressionismus. In der Weimarer Republik namhaftester Repräsentant linksbürgerlicher Literatur; nach dem 2. Weltkrieg lange Zeit vergessen.
Doppelexistenz als Arzt und Dichter; Vorliebe für psychopathologische Themen. Scharfe Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit; Sprach- und Stilexperimente. Erneuerer des zeitgenössischen Romans. Berlin Alexanderplatz: quasi-filmische Montagetechnik, Assoziationen, erlebte Rede, Bewußtseinsstrom. "So hat der Gischt der Sprache den Leser noch nie bis auf die Knochen durchnäßt" (Walter Benjamin); Epos des expressionistischen Zeitalters: Großstadt als modernes Babylon.
1916 Fontane-Preis für "Die drei Sprünge des Wang-lun".
1957 Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste
wichtige Lebensdaten:
1884 Vorschule des Friedrich-Wilhelm-Realgymnasiums
1888 Der Vater geht mit der 20 Jahre jüngeren Angestellten Henriette Zander nach Amerika, lässt Frau und fünf Kinder im sozialen Elend zurück; D. muss vom Gymnasium genommen werden. Umsiedlung nach Berlin. Unterstützung durch einen begüterten Bruder der Mutter.
1891 Fortsetzung der gymnasialen Ausbildung am Köllnischen Gymnasium; Vielleser (Kleist, Hölderlin, Nietzsche, Schopenhauer, Spinoza, Dostojewski); erste Schreibversuche
1900 mittelmäßiges Abitur
1900-04 Medizinstudium in Berlin; Bekanntschaft mit Herward Walden, Else Lasker-Schüler
1905 Fortsetzung des Studiums in Freiburg (Neurologie, Psychiatrie); Promotion (Dissertation: Gedächtsnisstörungen bei der Korsakoffschen Psychose)
1905-06 Assistenzarzt in der Kreisirrenanstalt Prüll bei Regensburg
1906 Berlin
1910 Mitbegründer (neben Herward Walden) der revolutionären Zeitschrift Der Sturm
1911-33 Niederlassung als praktischer Arzt und Geburtshelfer, später als Internist und Nervenarzt im Berliner Südwesten. Beginn der Doppelexistenz als Arzt und Dichter
1912 Heirat; persönliche Krise (Frau ist Typus der kunstfeindlichen Mutter). Kassenärztliche Praxis im Berliner Arbeiterviertel. Austritt aus der jüdischen Gemeinde.
1914-18 Meldung als Freiwilliger; Militärarzt in Saargemünd und Hagenau
1918 Rückkehr nach Berlin; Sympathisant der Rätedemokratie; Beitritt zur USPD
1919-22 erneute Eröffnung einer Arztpraxis; politischer Journalismus unter dem Pseudonym Linke Poot
1921-27 Beitritt zur SPD; Theaterkritiken für das Prager Tagblatt
1922 Beginn der lebenslangen Freundschaft mit der Fotografin Yolla Niclas
1923 Mitarbeit am Berliner Tageblatt
1924 Erster Vorsitzender im Schutzverband deutscher Schriftsteller; Polenreise
1925 Gründungsmitglied der Gruppe 25 (kommunistische u. linksliberale Autoren, darunter Brecht)
1928 Wahl in die Preußische Akademie der Künste, Sektion für Dichtkunst
1933 28.2. (Tag nach dem Reichstagsbrand): Emigration über Zürich nach Paris; Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft
1933-37 Einsatz für die jüdische Territorialistenbewegung
1936 französischer Staatsbürger
1939 im Dienst des frz. Informationsministeriums unter Jean Giraudoux
1940 Flucht vor den deutschen Truppen über Südfrankreich, Barcelona und Lissabon in die USA (Los Angeles, Kalifornien); auf Arbeitslosenunterstützung und Almosen angewiesen, Scriptwriter bei Metro-Goldwyn-Mayer. Selbstmord des Sohnes Wolfgang
1941 Übertritt zum Katholizismus (samt Frau und Sohn Stephan); soziale Isolation
1945 Nachricht vom Selbstmord Wolfgangs; Rückkehr als Kulturoffizier der französischen Militärregierung in Baden-Baden
1946-51 Herausgeber der Zeitschrift Das Goldene Tor
1953-56 Übersiedlung nach Frankreich als enttäuschter, verbitterter und kranker "Vergessener" (zumeist in Paris)
1956-57 immer wieder Aufenthalte in verschiedenen deutschen Krankenhäusern und Sanatorien: schwer krank, gelähmt, fast erblindet
1957 Tod im Landeskrankenhaus Emmendingen. 14.9.: Freitod Erna Döblins in Paris
Werke: (e = entstanden; a = Uraufführung)
Romane
1915 Die drei Sprünge des Wang-lun
1918 (1914 e) Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine (satir. R.)
1919 (1903 e) Der schwarze Vorhang
1920 Wallenstein (2 Bde.)
1924 Berge, Meere und Giganten (utopischer R.; Neuf. 1932: Giganten)
1924 (1923 e) Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord
1929 Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf
1934 Die Babylonische Wanderung oder Hochmut kommt vor dem Fall
1935 Pardon wird nicht gegeben
ab 1937 Amazonas-Trilogie
· Die Fahrt ins Land ohne Tod (1937)
· Der blaue Tiger (1938)
· Der neue Urwald (1948)
1939-40 November 1918 (Tetralogie)
· Der Zusammenbruch
· Verratenes Volk
· Heimkehr der Fronttruppen
· Karl und Rosa
1956 (1945/46 e) Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende
Versepos
1926 Manas
Erzählungen
1913 Die Ermordung einer Butterblume (Sammlung; Titelgesch. 1910)
1917 Die Lobensteiner reisen nach Böhmen (Sammlung)
1946 Der Oberst und der Dichter oder Das menschliche Herz
Sieger und Besiegte. Eine wahre Geschichte
1947 Heitere Magie (zwei Erz.)
Dramen
1906 Lydia und Mäxchen. Tiefe Verbeugung in einem Akt
1920 e Lusitania (szenischer Versuch; 1926 a) Die Nonnen von Kemnade
1931 Die Ehe. Drei Szenen und ein Vorspiel
Autobiographie
1949 Schicksalsreise
sonstige Prosa
1917 Es ist Zeit!
1921 Deutscher Maskenball (polit. Feuilletons unter Pseudonym "Linke Poot")
1925 Reise in Polen
1927 Das Ich über der Natur
1931 Wissen und Verändern! Offene Briefe an einen jungen Menschen
1933 Unser Dasein
Jüdische Erneuerung
1935 Flucht und Sammlung des Judenvolkes
1938 Die deutsche Literatur (im Ausland seit 1933)
1946 Der unsterbliche Mensch. Ein Religionsgespräch
Der Nürnberger Lehrprozeß (Pseud. Hans Fiedeler)
1948 Unsere Sorge ist der Mensch (Essays)
1974 Ein Kerl muß eine Meinung haben. Berichte und Kritiken 1921-24
Werkausgabe
1960ff. Ausgewählte Werke in Einzelbänden. In Verbindung mit den Söhnen hg. v. Walter Muschg, weitergef. v. Heinz Graber u. Anthony Riley, Olten/Freiburg i. Br.