7. Der Aufbau der typischen Fabel
In ihrer strengen Form besitzt die Fabel einen dreigliedrigen Aufbau , der
von der Antike bis zur Moderne im Prinzip beibehalten wird: Dieses einfach überschaubare
und rhetorisch geschickte Bauschema muß in engem Zusammenhang mit der
didaktischen Absicht der Fabel gesehen werden.
Dem Hörer oder Leser wird zunächst in der Ausgangssituation die zum
Fabelverständnis notwendige Information gegeben. Die Ausgangssituation
stellt die Handelnden kurz vor und lenks auf die spezielle Konfliktlage hin.
Eine weitergehende Beschreibung findet sich nur, wenn diese zum unmittelbaren
Verständnis unbedingt erforderlich ist.
Die Konfliktsituation ergibt sich in der Regel aus der Antithetik, die durch
die Gegenüberstellung zweier konträrer Verhaltensweisen hervorgerufen
wird. Die Handlung, in der der Konflikt verwirklicht wird, ist dabei so gestaltet,
daß eine Verhaltensweise als die unterlegene erkennbar wird.
In Rede und Gegenrede, Handlung und Gegenhandlung läuft ein dramatisches
Geschehen ab, das sich auf einen Höhepunkt zuspitzt und in einem überraschenden
Moment, einer Pointe, gipfelt.
Am Ende der Fabel (Lösung) wird das Ergebnis berichtet. Die Absicht des
Dichters ergibt aus der Deutung des Fabelgleichnisses. In wenigen Fällen
wird der Fabel als viertes Glied ein (meist später hinzugefügter)
Lehrsatz, das Epimythion, hinzugefügt, das dann typographisch oder anders
von der eigentlichen Erzählung getrennt wird.
Reinhard Dithmar erläutert das Aufbauprinzip am Beispiel der Fabel von
Fuchs und Rabe in der Version
Gotthold Ephraim Lessings: Der Rabe und der Fuchs
Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisch, das der erzürnte Gärtner
für die Katzen seines Nachbars hingeworfen hatte, in seinen Klauen fort.
Und eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich ein Fuchs herbeischlich
und ihm zurief: "Sei mir gesegnet, Vogel des Jupiter!" - "Für
wen siehst du mich an?" fragte der Rabe. - "Für wen ich dich
ansehe?" erwiderte der Fuchs. "Bist du nicht der rüstige Adler,
der täglich von der Rechte des Zeus auf diese Eiche herabkömmt, mich
Armen
zu speisen? Warum verstellst du dich? Sehe ich denn nicht in der siegreichen
Klaue die erflehte Gabe, die mir dein Gott durch dich zu schicken noch fortfährt?"
Der Rabe erstaunte und freuete sich innig, für einen Adler gehalten zu
werden. ,Ich muß' dachte er, ,den Fuchs aus diesem Irrtume nicht bringen.'
- Großmütig dumm ließ er ihm also seinen Raub herabfallen und
flog stolz davon. Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf und fraß es mit
boshafter Freude. Doch bald verkehrte sich die Freude in ein
schmerzhaftes Gefühl; das Gift fing an zu wirken und er verreckte.
“Situation: Der Rabe sitzt mit seinem Stück Käse auf einem
hohen Baum. Der Fuchs naht voll Gier nach dem Käse. Mit Gewalt läßt
sich nichts erreichen.
Aktion: Der Fuchs versucht es mit List. Der Rabe hat im Gegensatz zu den bunten
Singvögeln ein schwarzes und nichtglänzendes Gefieder. Im Gegensatz
zum Adler, dem König der Vögel, hat er einen unscheinbaren Kopf. Wenn
einer heiser ist und nicht singen kann, sagen wir: Er krächzt wir ein Rabe.
Der Fuchs sagt das Gegenteil. Er belügt den Raben; er schmeichelt ihm aus
Gewinnsucht.
Reaktion: Der eitle Rabe will sich zeigen und seine Stimme erklingen lassen.
Er ist törricht. Durch die Schmeichelei des Fuchses betört, denkt
er nicht daran, daß er den Käse verliert, wenn er den Schnabel öffnet.
Ergebnis: Der Fuchs hat sein Ziel mit List erreicht und frißt den Käse
auf. Erst jetzt merkt der Rabe, daß er betrogen wurde und für seine
Eitelkeit bezahlen muß."
Das aufgezeigte Grundschema ist variabel. Die Konfliktsituation kann aus einmaliger
Rede und Gegenrede bestehen, sie kann auch durch doppelten oder mehrfachen Wechsel
ausgedehnt sein.
Andererseits kann eine Fabel so reduziert sein, daß die Lösung des
Konflikts bereits in actio und reactio zum Ausdruck kommt.
Beispiel: H. Arntzen - Wolf und Lamm
Der Wolf kam zum Bach. Da entsprang das Lamm. "Bleib nur, du störst
mich nicht!" rief der Wolf. "Danke", rief das Lamm zurück,
"ich habe im Aesop gelesen."
Hier wird deutlich, daß actio und reactio, bzw. Rede und Gegenrede den
Kern der Fabel bilden und das eigentlich bestimmende Moment der Fabel darstellen.