Annette von Droste-Hülshoff

*10. Januar 1797 Schloss Hülshoff bei Münster
+24. Mai 1848 Meersburg (Bodensee) begraben: Meersburg, Friedhof
Aus altem katholischem westfälischen Adelsgeschlecht; Vater: Freiherr Clemens August Droste zu Hülshoff (1760-1826); Mutter: Therese Luise, geb. von Haxthausen (1772-1853). Geschwister: Jenny (*1795), Werner (*1798), Ferdinand (*1800).
Stilles, enges, nach außen ereignisloses Leben abseits der literarischen Modeströmungen ihrer Zeit; ständig kränkelnd, auch psychisch gefährdet.
Größte deutsche Lyrikerin, einzigartig auch in der Weltliteratur des 19. Jhs. Die späte Liebe zu Levin Schücking, dem Verfasser westfälischer Romane, lässt im Winter 1841/42 die meisten ihrer wertvollsten Gedichte entstehen. Zu den klassischen deutschen Novellen gehört "Die Judenbuche", eine Art epischer Schicksalstragödie (Fritz Martini), erzählt als Kriminalgeschichte - ein Markstein in der Entwicklung des poetischen Realismus.
wichtige Lebensdaten:
1812 Bekanntschaft mit dem münsterischen Professor Anton Matthias Sprickmann (ehemaliges Mitglied des Göttinger "Hains"); bis 1819 literarischer Mentor
1813 Bekanntschaft mit Katharina Busch (spätere Mutter Levin Schückings). Sommeraufenthalt bei den Großeltern in Bökendorf; dort Begegnung mit Wilhelm Grimm
1815 Schilddrüsenerkrankung
1818 Reise nach Kassel: erste Begegnung mit Amalie Hassenpflug (lebenslange Freundin); Zusammentreffen mit den Brüdern Grimm
1819 Aufenthalte in Bad Driburg, Bökendorf, Abbenburg; erste religiöse Gedichte
1820 unglückliche Liebe zu dem Göttinger Studenten Heinrich Straube
1825 Reise nach Köln, Bonn, Koblenz; Freundschaft mit Sibylla Mertens; Bekanntschaft u.a. mit August Wilhelm Schlegel
1826 Juli: Tod des geliebten Vaters; mit Mutter und Schwester Jenny Übersiedlung ins einsame Rüschhaus bei Münster, dem Witwensitz der Mutter
1828 2. Rheinreise: Koblenz, Köln, Bonn; Besuch bei der Freundin Sibylla Mertens in Plittersdorf
1829 ernste Krankheit; Tod des Bruders Ferdinand; Wiedersehen mit Katharina Schücking, geb. Busch
1830-31 3. Rheinreise; Aufenthalt in Bonn beim Vetter Clemens August
1831 Umzug nach Plittersdorf zu Sibylla Mertens; Begegnung mit Johanna und Adele Schopenhauer. Zurück in Rüschhaus Begegnung mit Levin Schücking. Nov.: Tod Katharina Schückings. Verlobung der Schwester Jenny mit dem 61-jährigen Joseph Freiherrn von Laßberg
1832 Tod des Lieblingsvetters Clemens August
1834 Beginn der Freundschaft mit dem erblindeten Münsteraner Philosophieprofessor Christoph Bernhard Schlüter. Schwester Jenny heiratet den Germanisten und Sammler Joseph von Laßberg (Wohnsitz: Burg Eppishausen im Thurgau)
1835-36 Annette wohnt bei Laßbergs in Eppishausen
1836 Rückreise nach Rüschhaus: Aufenthalt in Bonn bei der Witwe des Vetters Clemens
1837 Feb.: Ankunft in Rüschhaus; Erneuerung der Bekanntschaft mit Levin Schücking (1814-1883; letzte große Liebe und erster Biograph der Dichterin)
1838 Laßberg kauft die abbruchgefährdete Alte Meersburg
1838/39 Sommeraufenthalte in Abbenburg
1841 1. Aufenthalt bei Schwester und Schwager auf Schloss Meersburg, wohin auch Levin Schücking kommt, der Laßbergs Bibliothek ordnen soll; Mitarbeit an Werken Schückings; Bekanntschaft mit Uhland u. Gustav Schwab
1842 Schücking verlässt Meersburg; Rückkehr nach Rüschhaus; beginnende Vereinsamung
1843 Verlobung und Heirat Schückings mit der Generalstochter Luise von Gall. Herbst: 2. Aufenthalt in Meersburg; Freundschaft mit der Fürstin Salm und Philippa Pearsall. Erwerb des "Fürstenhäuschens", das Annette aber nicht mehr beziehen kann
1844 Besuch des Ehepaars Schücking in Meersburg; Entfremdung; die beiden Frauen verstehen sich nicht. Aug.: Auf der Rückreise nach Rüschhaus erkrankt A.
1846 Bruch mit Schücking; schwere Erkrankung. Übersiedlung vom Rüschhaus nach Hülshoff, von da nach Meersburg
1847 A. schreibt ihr Testament
Werke: e = entstanden
Gedichte
1820 e Das geistliche Jahr. Teil 1 (Gedichtzyklus)
1838 Gedichte (anonym; Versepen und kleinere Gedichte)
1839 e Das geistliche Jahr. Teil 2 (Gedichtzyklus)
1844 Gedichte
· Zeitbilder
· Heidebilder (u.a. Die Jagd 1841/42 e, Der Hünenstein 1841/42 e, Die Mergelgrube 1841/42 e, Der Heidemann 1841 e, Das Hirtenfeuer 1841 e, Der Knabe im Moor 1842 e)
· Fels, Wald und See (u.a. Am Turme 1841/42 e)
· Gedichte vermischten Inhalts (u.a. Die Taxuswand 1841/42 e, Sit illi terra levis! 1840 e, Das Spiegelbild 1841/42 e)
· Scherz und Ernst (u.a. Die beschränkte Frau 1843 e)
· Balladen (u.a. Der Geierpfiff 1840 e, Die Vergeltung 1841 e, Der Spiritus familiaris des Roßtäuschers 1842 e)
1851 Das geistliche Jahr (hg. v. Christoph Bernhard Schlüter)
1860 Letzte Gaben (Nachlass; hg. v. Levin Schücking; u.a. Carpe diem! 1844 e, Durchwachte Nacht 1845 e, Mondesaufgang 1844 e) Versepen
1838 (ab 1829 e) Das Hospiz auf dem Großen Sankt Bernhard
1838 (1834 e) Des Arztes Vermächtnis
1838 Die Schlacht im Loener Bruch
erzählende Dichtung
1819-25 e Ledwina (Romanfragment)
1842 (1839-40 e) Die Judenbuche. Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westphalen
1841 e Bei uns zu Lande auf dem Lande (Frgm.)
1845 (1842 e) Bilder aus Westfalen
Ausgaben
1878-79 Gesammelte Schriften, hg. v. Levin Schücking, Stuttgart (3 Bde.)
1884-87 Gesammelte Werke, hg. v. Elisabeth Freiin von Droste-Hülshoff u. Wilhelm Kreiten, Münster/Paderborn (4 Bde.)
1925-30 Sämtliche Werke, hg. v. Karl Schulte Kemminghausen, München (4 Bde.)
1973-78 Sämtliche Werke, hg. v. Günther Weydt u. Winfried Woesler, München (2 Bde.)
1978ff. Werke, Briefwechsel, hist.-krit. Ausgabe, hg. v. Winfried Woesler, Tübingen (24 Bde.)

Am Turme
Ich steh auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und laß gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen!
Und drunten seh ich am Strand, so frisch
Wie spielende Doggen, die Wellen
Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch
Und glänzende Flocken schnellen.
O, springen möcht ich hinein alsbald,
Recht in die tobende Meute,
Und jagen durch den korallenen Wald
Das Walroß, die lustige Beute!
Und drüben seh ich ein Wimpel wehn
So keck wie eine Standarte,
Seh auf und nieder den Kiel sich drehn
Von meiner luftigen Warte;
O, sitzen möcht ich im kämpfenden Schiff,
Das Steuerruder ergreifen
Und zischend über das brandende Riff
Wie eine Seemöve streifen.
Wär ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar
Und lassen es flattern im Winde!
(1841/42)