9. Die Bedeutung der Fabel im Deutschunterricht
Der didaktische Gehalt der Fabel > Schüler-, Gesellschafts- und Fachrelevanz <
Über die didaktische Absicht der Fabel selbst ist bereits im vorigen Kapitel
gesprochen worden; im folgenden Abschnitt soll der pädagogische Wert dieser
Gattung für den Literaturunterricht analysiert werden.
Um es gleich vorweg zu sagen: Zwei wesentliche Argumente sprechen dafür,
daß die Fabel auch im modernen Deutschunterricht ihre Funktion und Bedeutung
hat:
1. Sie verdeulicht, was gute Literatur allgemein zu leisten vermag, nämlich
Probleme und Konflikte aus den verschiedensten Bereichen menschlichen Seins
bewußt zu machen und Lösungsstrategien dafür anzubieten.
2. Sie ist aufgrund ihrer Kürze und ihres Aufbaus vorzüglich geeignet,
die Schüler an die systematische Textanalyse heranzuführen; das gilt
sowohl für die inhaltliche wie auch für die formale Arbeit an Texten.
Im Mittelpunkt soll zunächst soll die Frage stehen: “Was leistet
die Fabel für die vom Schüler jetzt und später zu realisierende
Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit ?"
Der Literaturunterricht in der Sekundarstufe I zielt auf junge Menschen, deren
Welt- und Sachverständnis sich gerade erst etabliert. Aufgabe des Literaturunterrichts
muß es daher sein, dem Schüler durch geeignete Texte Informationen
über die Welt als Befriedigung von gegenwärtigen Informationsbedürfnissen
anzubieten und ihm damit eine Daseinsorientierung zu ermöglichen, die (auf
die gegenwärtige Lebenspraxis des Schülers bezogen) für den Schüler
eine "Hilfe beim Aufwachsen" bedeutet und die (auf die Zukunft des
Schülers und der Gesellschaft bezogen) eine "Weltkenntnis als Bestandteil
einer allgemeinen Lebensqualifikation" schafft.
Dieser Aufgabe wird die Fabel in besonderer Weise gerecht. Sie bietet dem Schüler
ein Denkmodell, eine auf klare Grundverhältnisse des Lebens reduzierte
Situation an, auf deren unterer Ebene sich Ereignisse in beinahe märchenhafter
Form innerhalb des Tierreiches vollziehen: Tiere sprechen und handeln wie Menschen.
Von der höheren Ebene aus zeigt sich aber, daß das anschauliche Geschehen
auf der unteren Ebene parabolischen Charakter hat und somit eine allgemeine
Bedeutung erlangt.
Hat der Schüler die Fabel als parabolische Sprachform erkannt, so ermöglicht
sie ihm eine Daseinsorientierung in zweifacher Hinsicht, zum einen, indem sie
das Verständnis für fundamentale menschliche Situationen erschließt,
zum anderen, indem sie mit ihrer realistisch unbequemen Wahrheit den Blick auch
für die unerfreulichen Seiten des Lebens öffnet. Deshalb darf sich
der Unterricht nicht mit der Betrachtung der Erzählseite einer Fabel begnügen,
sondern muß von vornherein auch die Sinnseite mit in die Betrachtung einbeziehen:
“Auf welche Gelegenheit paßt dieses Denkmodell? Welche Situation,
welche gesellschaftliche Konstellation wird durch dieses Modell erhellt?"
Indem sich der Schüler mit dieser Fragestellung auseinandersetzt, wird
von ihm ein Erkenntnisprozess gefordert, der sowohl von existentieller als auch
von fachspezifischer Bedeutung ist. Anhand der Fabelbetrachtung erkennt der
Schüler, daß literarische Texte einen Informationsgehalt über
die Welt und über bestimmte, vom Dichter gestaltete Momente der Wirklichkeit
enthalten.
Über die Erkenntnis des Wirklichkeitsbezuges der Fabel und der Literatur
insgesamt, gelangt der Schüler zu einer eigenen Identitätsgewinnung,
indem er die Aussagen des auf die Wirklichkeit bezogenen Textes mit seinen eigenen
Vorstellungen von der Welt vergleicht, das Verhalten der agierenden Figuren
seinen eigenen Verhaltensnormen gegenüberstellt (“Wie hätte
ich mich in dieser Konfliktsituation verhalten?" ) und indem er die in
den Fabeltexten dargestellten Geschehnisse auf Ereignisse aus seinem eigenen
Erfahrungsbereich überträgt.
Neben der Daseinsorientierung und Identitätsbildung kommt der Fabel im
Literaturunterricht noch eine besondere Bedeutung bei der Persönlichkeitsbildung
des Schülers zu. Als parabolische Rede ist die Fabel eine spezifische Sprachform
des kritischen Denkens. Sie wendet sich an den Verstand; sie will diskutiert
werden, will Kritik herausfordern und somit die Kritikfähigkeit des Schülers
fördern.
Die Fabeln stellen dem Schüler Konfliktsituationen vor, die ihn zur distanzierten
Auseinandersetzung mit den gegebenen Umständen veranlassen, und sie bieten
Konfliktlösungsstrategien an, die zur kritischen Prüfung der dargestellten
Verhaltensweisen herausfordern und zugleich zur selbstkritischen Überprüfung
seiner eigenen Denk- und Verhaltensweisen. Diese kritische Reflexion seiner
eigenen Denk- und Verhaltensweisen ermöglicht dem Schüler schließlich
in gewissem Umfang eine Selbsteinschätzung der eigenen Person und seiner
Verhaltensmuster in akuten Situationen, die zur grundlegenden Voraussetzung
wird für die Fähigkeit sozialer Interaktion und Kommunikation. Das
bedeutet letztendlich die Fähigkeit der Konfliktbewältigung im eigenen
Alltag des Schülers, da die Fabel Probleme und Konflikte und entsprechende
Lösungsstrategieen aus verschieden Bereichen des Lebens vorstellt.
Zum Erwerb einer “fachlichen Literatur- und Lektürekompetenz"
ist es notwendig, den Schülern Kenntnisse über die Gattung “Fabel"
selbst, d.h. über die kennzeichnenden Strukturelemente und Gestaltungsprinzipien
sowie über die Gattungsgeschichte zu vermitteln.
Daher ist es von didaktischer Relevanz, daß die Schüler nicht nur
über den Realitätsbezug und die didaktisch-kritische Intentionalität
der Fabel Bescheid wissen, sondern auch Kenntnisse über das Figureninventar,
die Typisierung der Fabelfiguren, die sprachlichen Ausdrucksformen, die Kompositionsprinzipien
und den Aufbau der Fabel sowie über die Verbindung von epischen und dramatischen
Elementen erwerben, um die Fabel als Gattung identifizieren und sie von anderen
literarischen Formen unterscheiden zu können.
Für die Bildung und Förderung einer "literarischen Kompetenz"
ist es wichtig, neben den gattungskonstituierenden Merkmalen der Fabel auch
die individuellen ästhetischen Besonderheiten der einzelnen Texte zu berücksichtigen.
Durch die Unterscheidung der epischen und dramatischen Momente der Fabel läßt
sich am relativ einfachen Beispiel die Grundlage für eine spätere
Erarbeitung und Definition der Begriffe 'Epik' und 'Dramatik' schaffen.
Schließlich führt der dramatische Charakter der Fabel dahin , die
Fabel im Unterricht mit verteilten Rollen lesen zu lassen, wobei ein Sprecher
jeweils den epischen Teil vorträgt. Besonders geeignet sind hierzu Fabeln,
die eine längere Rede oder eine umfangreichere Wechselrede enthalten.
Weiterhin legt es der dramatische Charakter der Fabel nahe , daß besonders
geeignete Fabeltexte im Unterricht auch zum Spiel umgestaltet werden können.
Wichtig ist allerdings für die Ausgestaltung einer Fabel zum parabolischen
Spiel, daß die Schüler bereits etwas vom Realitätsbezug und
der didaktisch-kritischen Intentionalität der Fabel verstanden haben, so
daß sie auf eine naturalistische Darstellung der Fabeltiere verzichten
Das Rollensprechen und Spielen von Fabeln bietet besonders den Schülern,
die sich am Unterrichtsgespräch nur in geringem Maß beteiligen, die
Möglichkeit, vor der Klasse frei zu sprechen und zu agieren und trägt
so dazu bei, ihre Sprechangst und Befangenheit abzubauen.
Zudem kommt der Darstellung des dramatischen Strukturmerkmals der Fabel eine
propädeutische Bedeutung für die spätere Behandlung von Dramen
zu. Die Schüler können am Beispiel des Fabeldialogs, in dem eine dramatische
Konfliktsituation ausgestaltet wird, ein Grundmuster dramatischer Literatur
kennen-lernen. Auf dieser Grundlage können die Schüler später
z.B. anhand einer vergleichenden Untersuchung des Biedermann-Motives bei Max
Fritsch (Erzählung, Hörspiel, Schauspiel) erkennen, daß die
gleichnishafte Rede wie das gleichnishafte Spiel eine besondere Art des Verstehens
der Welt und des Bewältigens von Lebenssituationen ist.