5. Das Pro- und Epimythion

Da die Fabel einen konkreten Wirklichkeitsbezug hat und diese Wirklichkeit ins “Fabelhafte" übertragen wird, muß zum Verständnis der Fabel zwischen einem BILDTEIL und einem SACHTEIL unterschieden werden.
Während uns der Bildteil mit der Fabel selbst vorgegeben wird, sind wir bezüglich des Sachteils auf die Entschlüsselung der in der Fabel zugrunde liegenden Begebenheit angewiesen. Der ursprüngliche “Sitz im Leben" einer Fabel (das ist die konkrete ursprüngliche Situation, in der die Fabel entstanden ist) ist nur in den wenigsten Fällen bekannt, weil er nicht überliefert wurde.
Oft soll der fehlende Sachteil daher durch ein sogenanntes Promythion oder Epimythion, d. h. durch einen Merk- oder Lehrsatz, den man der Fabel im Zuge der Überlieferung vor- oder nachgestellt hat, ersetzt werden. Dieses Pro- oder Epimythion, d. h. der mit “Lehre", “Moral", “Merke" oder ähnlich eingeleitete Spruch, kann helfen, die Aussageabsicht der Fabel leichter zu erschließen.
Allerdings nimmt ein Pro- oder Epimythion dem Leser einen wesentlichen Reiz der Fabel: nämlich den der eigenen Überlegung und Erschließung des Gehalts und der Intention.
Das bedeutet, daß dieser Zusatz dem Leser die eigene gedankliche Arbeit, die Reflexion und die Suche nach dem Wirklichkeitsbezug, der bei jedem Leser aufgrund unterschiedlicher Erfahrungshorizonte durchaus ein anderer sein kann, weitestgehend vorwegnimmt.
Ein Pro- oder Epimythion ist also eher überflüssig, da eine Fabel so beschaffen sein muß, daß der Leser die enthaltene Lehre mühelos entdecken und auf seine Realität beziehen kann.