6. Das Figureninventar der Fabel
6.1 Die Anzahl der Akteure
Zum Figureninventar der Fabel gehören neben Pflanzen und unbelebten Gegenständen
vor allem die Tiere. Die Zahl der in der Fabeldichtung vorkommenden Tiere ist
nicht sehr groß. Als typische und häufig auftretende Fabeltiere finden
sich der Löwe, der Fuchs, der Wolf, der Esel, der Hase und der Rabe. Schon
seltener erscheint das Lamm, die Maus, der Frosch, der Igel, der Ochse oder
die Schlange. In der Regel finden sich in der Fabel Tiere aus der unmittelbaren
Umgebung des Menschen, also solche, die dem Menschen aus ihrer typischen natürlichen
Eigenart vertraut sind.
Zumeist stehen sich in der Fabel zwei einzelne Tiere gegenüber; seltener
zwei Gruppen oder ein Tier und eine Gruppe. Bei den meisten Fabelmotiven reichen
zwei Figuren aus, um die Aussageabsicht der Fabel klar herauszustellen. Treten
dennoch mehrere Tiere auf, werden Gruppen gebildet, so daß sich doch wieder
nur zwei Parteien gegenüberstehen. So agieren in Aesops Fabel von Maus
und Frosch zunächst nur Maus und Frosch allein. Sobald der Habicht in das
Geschehen eingreift, werden die beiden Kontrahenten zur Einheit, indem sie aneinandergebunden
das gleiche Schicksal erleiden.
6.2 Die Typisierung der Fabeltiere
Zu dem relativ kleinen Sortiment an Fabeltieren und der geringstmöglichen
Zahl an handelnden Tieren innerhalb einer Fabel kommt als weiteres Merkmal die
typische Gestaltung der Fabeltiere hinzu. Dabei kann es sein, daß das
typische Ansehen (der “Ruf") eines Tieres in der Meinung des Volkes
bereits vorgeprägt war, bevor es als Vertreter einer bestimmten Eigenart
oder Gesinnung in der Fabel verwendung fand. Daneben ist aber auch denkbar,
daß eine bestimmte Vorstellung von der Art eines Tieres erst durch die
Fabel selbst geprägt worden ist, indem es im Laufe der Geschichte der Fabel
stets durch die gleichen markanten Eigenschaften geprägt wurde.
So ist der Fuchs uns in seinem Verhalten deshalb so vertraut, weil er in jeder
Fabel einen für ihn typischen Charakter hat und weil dieser von den Dichtern
stets hervorgehoben wird. Nur dadurch, daß der Fuchs in jeder Fabel als
der Schlaue erscheint, bleibt sein Bild erhalten. Entsprechendes gilt z. B.
für den Esel, der das Törrichte, Naive und Sture verkörpert und
für das Lamm als Zeichen der Unschuld und Wehrlosigkeit.
Durch diese stets wiederkehrende typische Gestaltung der Fabeltiere gewinnt
die Fabel ihren festen Bestand an Figuren.
Treffen in einer Fabel z. B. der gefräßige Wolf und der dumme Esel
zusammen, dann weist diese Figurenkonstellation schon auf die Art der Handlung
hin.
Zu diesen typisierten Fabeltieren treten aber auch noch solche Tiere hinzu,
die nicht auf bestimmte Eigenschaften fixiert sind. In Fabeln, in denen untypisierte
Tiere agieren, gewinnen Handlung, Situation oder Umstände eine entscheidende
Bedeutung, während andere Fabeln schon allein durch das Zusammentreffen
bestimmter Typen geprägt werden, wobei besondere Umstände dann eine
deutlich geringere Bedeutung haben können.
Die typischen Eigenschaften, die den Tieren in der Fabeldichtung zugeschrieben
werden, findet man auch in Sprichwörtern, Redensarten und in der Heraldik
wieder. Mit den biologischen Eigenarten der Tiere brauchen sie jedoch nicht
übereinstimmen, denn die Fabeltiere sind gedankliche Schöpfungen des
Menschen, und die Eigenschaften werden den Tieren vom Menschen zugeschrieben.
Durch die Übertragung menschlicher Eigenschaften auf die Fabeltiere (Personifizierung)
werden diese in den menschlichen Bereich integriert. Sie sind in diesem Sinne
keine Tiere mehr, sondern stehen stellvertretend für einen bestimmten Menschentyp.
6.3 Die Vermenschlichung der Fabeltiere
In der Fabel sprechen und handeln die Tiere wie Menschen. Erst durch die völlige
Gleichschaltung des Tieres und des Menschen können die Tiere ihre Aufgabe
in der Fabel erfüllen: Sie werden zur Person, d. h. zu einem Wesen, daß
Verantwortung für sein Handeln trägt, das schuldig wird und dafür
büßen muß oder unschuldig ein ungerechtes Schicksal erleidet.
Die Anthropomorphisierung (Vermenschlichung eines nichtmenschlichen Bereichs)
ist somit ein weiteres typisches und wesentliches Merkmal der Fabel. Für
die Fabel heißt das, nur das für den Menschen Typische wird auf die
Tiere übertragen, und zwar so, daß die tierischen Eigenschaften entweder
überformt werden oder daß neue menschliche Eigenarten hinzutreten.