*3. Juli 1883 Prag
+3. Juni 1924 Kierling bei Klosterneuburg (Kehlkopftuberkulose) begraben: Prag-Strasnice,
Neuer Jüdischer Friedhof
Ältestes Kind des Kaufmanns Hermann Kafka (1852-1931) und seiner Frau Julie
geb. Löwy (1856-1934); Geschwister: Georg (1885-1886), Heinrich (1887-1888),
Elli (1889-1941), Valli (1890-1942), Ottla (1892-1943).
Als liberaler Jude isoliert von den orthodoxen, als Jude von den Christen, als
Deutscher von den Tschechen, als Künstler vom Bürgertum. Lebensschwierigkeiten
aufgrund frühkindlicher Beziehungskonflikte: Mutterfixierung, problematisches
Verhältnis zum dominanten, lieblosen Vater (Leitmotiv seiner Erzählungen
und Romane; vgl. den "Brief an den Vater"): Entscheidungsschwäche,
fehlendes Selbstvertrauen, Beziehungsunfähigkeit, depressive Grundstimmung,
Einsamkeit.
Einer der bedeutendsten deutschsprachigen Erzähler des 20. Jhs.; weltweiter
Einfluß auf die moderne Literatur. Trotz der testamentarischen Verfügung
Kafkas, dass sein literarischer Nachlaß zu verbrennen sei, veröffentlichte
sein Freund Max Brod seit 1925 das gesamte Werk. Breite Auseinandersetzung mit
Kafkas Werk setzte erst nach 1945 ein, zuerst in Westeuropa und Amerika, dann
in Deutschland.
Hauptthema: Mensch in der Selbstentfremdung; aussichtsloser Kampf des
Protagonisten gegen anonyme Mächte und undurchschaubare ("kafkaeske")
Situationen, denen die eigene Existenz ausgeliefert ist und die er trotz aller
verzweifelter Mühe nicht aufheben kann. Welt als Falle (vgl. Kleine Fabel),
als Schauplatz vergeblicher Anstrengungen (Gibs auf), als Raum von Entfremdung
und Sinnlosigkeit. Kafkas fiktionale Wirklichkeit ist nur äußerlich
die der zeitgenössischen bürgerlichen Welt, unter der Oberfläche
aber alogisch und defekt, so daß sie den Leser auf Schritt und Tritt überrascht
und verstört. Die hermetische Welt der Erzählungen bildet eine stetige
Herausforderung an die Interpreten (psychoanalytische, mythologische, religionspsychologische,
strukturanalytische Ansätze), sperrt sich aber gegen jede eindeutige Festlegung.
Auszeichnung:
1915 Fontane-Preis
wichtige Lebensdaten: <http://www.lehrer.uni-karlsruhe.de/%7Eza874/homepage/>
1889-93 Volksschule am Fleischmarkt
1893-01 Altstädter Deutsches Staatsgymnasium; Reifeprüfung; Wohnung
der Familie in der Zeltnergasse
1901-06 Studium an der Deutschen Universität Prag; Studienfächer:
kurzzeitig Chemie, Germanistik; dann Jura; daneben kunstgeschichtliche Vorlesungen
1902 Ferien in Liboch und Triesch (beim Onkel Siegfried, dem Landarzt); erste
Begegnung mit Max Brod
1903 rechtshistorische Staatsprüfung
1906 Promotion zum Dr. jur.; Advokatur, ein Jahr "Rechtspraxis" (=
Referendariat)
1907 Eintritt in die Versicherungsanstalt Assicurazioni Generali als Aushilfskraft;
Umzug der Familie in die Niklasstraße
1908-22 bis zur Pensionierung Beamter bei der halbstaatlichen Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt
1909 Ferien mit Max und Otto Brod in Riva/Gardasee
1911 mit Max Brod Ferien an den oberitalienischen Seen
1912 Reise mit Max Brod nach Leipzig und Weimar; anschließend allein im
Naturheilsanatorium Just´s Jungborn bei Stapelburg. Erste Begegnung mit
Felice Bauer (1887-1960); Korrespondenz; erste öffentliche Lesung in Prag
(Das Urteil)
1913 zwei Besuche in Berlin bei Felice; Beförderung zum Vice-Sekretär
(Stellvertreter des Abteilungsleiters); Wien, Venedig, Riva; Briefverkehr mit
Felices Freundin Grete Bloch (*1892)
1914 Mai: 1. Verlobung mit Felice in Berlin; Juli: Lösung des Verlöbnisses;
Reise an die Ostsee; eigenes Zimmer in der Bilekgasse; im Oktober erneute Kontaktaufnahme
mit Felice.
1915 Januar: Wiedersehen mit Felice; Zimmer in der Langen Gasse; Ungarnreise
1916 Urlaub mit Felice in Marienbad; Zimmer in der Alchimistengasse
1917 Zimmer im Schönborn-Palais; Juli: 2. Verlobung mit Felice; 12./13.
August: Blutsturz; Konstatierung der Lungentuberkulose; Übersiedlung zu
Ottla nach Zürau, um sich zu erholen; Weihnachten: 2. Entlobung in Prag
1918 Zürau; Rückkehr nach Prag; Rumburg, Turnau, zur Erholung in Schelesen
1919 Schelesen: Zusammentreffen mit Julie Wohryzek (Tochter eines Gemeindedieners
an der Synagoge; *1891); Prag; Versuch, Julie Wohryzek zu heiraten, scheitert;
Schelesen
1920 Beförderung zum Abteilungsleiter; Meran; Briefwechsel mit der tschechischen
Journalistin Milena Jesenská (Christin); mit Milena in Wien; Prag; Kur
in Matliary (Tatra)
1921 Matliary; im Herbst wieder in Prag (dienstunfähig); Besuche Milenas
1922 Spindlermühle (Riesengebirge); Prag; bei Ottla in Planá; Pensionierung
1923 Prag; Müritz (Ostsee), wo er die aus Polen stammende Jüdin Dora
Diamant (*1898) kennenlernt; Schelesen (Ottla); Übersiedlung nach Berlin
zu Dora
1924 Berlin; Rückkehr des Schwerkranken nach Prag; Sanatorium Wiener Wald
in Ortmann/Niederösterreich; auf 95 Pfund abgemagert; Diagnose: Kehlkopftuberkulose;
K. kann nur noch flüstern. Danach Sanatorium Dr. Hoffmann in Kierling
Biographie In Prag wurde Franz Kafka am 3. Juli 1883 geboren, in Prag verbrachte
er auch den größten Teil seines kurzen Lebens. Der 19jährige
Student Kafka scherzt seinem Schulfreund und Kommilitonen Oskar Pollak gegenüber:
Prag läßt nicht los. Uns beide nicht. Dieses Mütterchen hat
Krallen. Da muß man sich fügen oder -. An zwei Seiten müßten
wir es anzünden, am Vysehrad und am Hradschin, dann wäre es möglich,
daß wir loskommen. Vielleicht überlegst Du es Dir bis zum Karneval.
Franz Kafka führte nach seinem Studienabschluß ein denkbar trostloses
Dasein als mittlerer Angestellter und Junggeselle, der noch bei seinen Eltern
wohnte. Tagsüber saß er sechs Stunden in seinem Büro im vierten
Stock der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt, verfolgte den Sekundenzeiger
der Wanduhr und verfaßte irgendwelche Gutachten über die Sicherheit
an Arbeitsplätzen, nachmittags legte er sich für ein paar Stunden
ins Bett, ruderte, bestellte einen kleinen Garten oder unternahm ausgedehnte
Spaziergänge durch die Parkanlagen und Straßen der Stadt, um spätabends
bzw. nachts für seine eigentliche Passion gerüstet zu sein: Franz
Kafka verstand sich in einem ausschließlichen Sinne als Schriftsteller,
sein äußeres Dasein war zielstrebig auf das Schreiben hin ausgerichtet,
nur beim Schreiben konnte er sich auf eine zutiefst befriedigende Weise ausleben,
alle sonstigen Interessen ordnete er dieser Tätigkeit unter, alles, was
ihn am Schreiben behinderte oder auch nur hätte behindern können,
empfand er als Bedrohung - und sobald er für kurze Zeit einmal nichts zu
Papier gebracht hatte, wurde er depressiv. In einem späten Brief an Max
Brod bekennt er: Das Schreiben ist ein süßer wunderbarer Lohn, aber
wofür? In der Nacht war es mir mit der Deutlichkeit kindlichen Anschauungsunterrichtes
klar, daß es der Lohn für Teufelsdienst ist. Dieses Hinabgehen zu
den dunklen Mächten, diese Entfesselung von Natur aus gebundener Geister,
fragwürdige Umarmungen und was alles noch unten vor sich gehen mag, von
dem man oben nichts mehr weiß, wenn man im Sonnenlicht Geschichten schreibt.
Vielleicht gibt es auch anderes Schreiben, ich kenne nur dieses: in der Nacht,
wenn mich die Angst nicht schlafen läßt, kenne ich nur dieses. (3.
Juli 1922)
Auch seine Vorbehalte einer Ehe gegenüber rührten zum Teil aus der
Furcht, sich auf das Schreiben nicht mehr konzentrieren zu können. Kafka
war ein Literatur-Besessener - allerdings aus persönlicher Not heraus.
Innerhalb der Familie galt der skrupelhafte, introvertierte Schriftsteller als
Außenseiter, besonders der Vater brachte nicht das geringste Verständnis
für die Interessen seines Sohnes auf. Kafka arbeitete auch deshalb vorwiegend
in den Nachtstunden, weil er dann endlich seine Ruhe hatte, die Eltern und Geschwister
lagen im Bett, sie lärmten oder plauderten nicht mehr, und er konnte sich
in das winters beheizte Wohnzimmer setzen. Ein Prosatext aus dem Jahre 1912
(Großer Lärm) beginnt folgendermaßen: »Ich sitze in meinem
Zimmer im Hauptquartier des Lärms der ganzen Wohnung.«
Franz Kafka zog sich im Lauf der Jahre zunehmend in die Literatur zurück.
Man könnte sogar sagen: Aus dem engen bürgerlichen Dasein (als eine
Metamorphose des Grauens verzerrt nachgestaltet in seiner berühmtesten
Erzählung Die Verwandlung, 1915) - Studium, Praktisches Jahr und Anstellung
in einer Versicherung - emigrierte der stark angeschlagene, übersensible
Mensch Kafka in den Raum der Literatur. Das hing nicht wenig mit dem Vater zusammen,der
keine direkte Schuld, aber dennoch großen Anteil an der Misere seines
Sohnes hatte: Der Jude Hermann Kafka war ein tüchtiger Geschäftsmann,
den das Leben hart gemacht hatte. Er stammte aus denkbar einfachsten ländlichen
Verhältnissen, mußte schon als Kind im Elternhaus mitarbeiten und
Fleischwaren ausliefern, war in seiner Jugend als Händler durch die Dörfer
getingelt und hatte es in Prag nach seiner Militärzeit zu bescheidenem
Wohlstand gebracht: Gemeinsam mit seiner Frau Julie, geb. Löwy, aus dem
vermögenden und gebildeten deutsch-jüdischen Bürgertum stammend,
führte er bald einen Kurz- bzw. ,Galanteriewarenladen'.
Den ganzen Tag über standen die Kafkas im Geschäft und verkauften
Tücher, Stoffe, Troddeln, Rüschen etc. und saßen abends vielleicht
noch beim Kartenspiel zusammen, während die vier Kinder - Franz und seine
Schwestern Elli, Valli und Ottla - von einem tschechischen Dienstmädchen
versorgt und erzogen wurden. Gleichzeitig war der robuste Hermann Kafka ein
rücksichtsloser Tyrann, der seine Angestellten lauthals herumkommandierte
und sogar wüst beschimpfte. Den eigenen Kindern hielt er fast täglich
vor, daß es ihnen eigentlich viel zu gut ginge, daß sie niemals
Not leiden mußten und alles nur ihm zu verdanken hätten. Darüber
hinaus hatte er aus persönlichem Stolz heraus eine klare Vorstellung davon,
wie gerade sein Sohn hätte beschaffen sein sollen: nämlich aufgeschlossen,
hart und arbeitsam - ganz sein Ebenbild.
Franz Kafka schrieb in späteren Jahren einen ca. hundertseitigen Brief
an den Vater (1919), den er allerdings niemals abgeschickt hat. Darin schildert
er aus der - scheinbaren - Distanz von dreißig Jahren sein Kindheits-Trauma:
den übermächtigen Vater, der alles kategorisch bestimmte und in jeder
Frage von vornherein Recht hatte und den er deshalb grenzenlos bewunderte -
der jedoch seine Kinder nur mit abschätziger Ironie behandelte und verächtlich
alles abtat, wofür sich Franz begeistern mochte. Das Resultat dieses ungleichen
Kampfes bestand darin, daß der ohnehin schüchterne Junge noch weniger
aus sich herausging, daß er verstockt wurde und kaum mehr etwas redete.
Auch in seiner persönlichen Entwicklung blieb Kafka entscheidend zurück.
Vielleicht hängt damit zusammen, daß er zeit seines Lebens das Aussehen
eines Jugendlichen hatte.
Der junge Kafka lebte im ständigen Bewußtsein, daß seine Gefühle
für andere Menschen, sein Interesse für Literatur, seine Träume
vom Leben - überhaupt alle eigenen Ansichten nicht nur falsch und deplaziert
waren, sondern daß er sich mit ihnen geradezu schuldig machte, daß
er sich gegen den Vater und dessen intakte Welt versündigte. Durch sein
gesamtes dichterisches Werk zieht sich diese Thematik des allmächtigen,
gottgleichen Vaters bzw. des vatergleichen Potentaten sowie des latenten Schuldbewußtseins
dieser düsteren Gestalt gegenüber. Denn aus dieser psychischen Last
resultierte auch sein schwieriges Verhältnis den Frauen gegenüber.
Seine intellektuellen Fähigkeiten, sein Interesse für Bücher,
sein Urteilsvermögen und seine geistige Unabhängigkeit entwickelten
sich dagegen außerordentlich. Kafka durchlief ohne Probleme die fünf
Klassen des gefürchteten Altstädter Gymnasiums - nach Aussagen vieler
Zeitgenossen eine ledern konservative Bildungsanstalt mit strengem Reglement
und starrem Lehrplan: Die Schüler waren in der Hauptsache damit beschäftigt,
Vokabeln (Latein- und Griechisch) zu pauken, Verben zu konjugieren, historische
Daten (besonders von großen Schlachten) auswendig zu lernen, und eigneten
sich eine Menge überflüssiges Wissen an. Unter seinen Mitschülern
galt der literarisch ausgerichtete und einzelgängerische Atheist als souverän
und distanziert, seine Urteile z.B. über den Prager Schriftsteller Gustav
Meyrink und dessen metaphorische Schreibweise waren hart und illusionslos, Kafka
wurde sogar als Spötter in religiösen Belangen gefürchtet. Eine
rege Freundschaft verband ihn über Jahre mit dem Zionisten Hugo Bergmann,
dem späteren Rektor der Hebrew Universitiy von Jerusalem, sowie mit dem
vielseitig interessierten Oskar Pollak, der später Kunstgeschichte studierte
und schon während seines Studiums als Koryphäe in seinem Fach galt
- im Ersten Weltkrieg fand dieser vielversprechende Gelehrte den Tod.
Kafka schrieb sich an der Prager Universität zunächst für Chemie
ein - doch für die praktische Arbeit in einem Laboratorium zeigte er sich
wenig tauglich und wechselte nach 14 Tagen erst zur Jurisprudenz, dann zur Germanistik
und kehrte im dritten Semesterenttäuscht zum ,Jus' zurück; nebenher
hörte der junge Student Vorlesungen in Philosophie, war vorübergehend
Mitglied der Prager »Lese- und Redehalle der deutschen Studenten«
und hielt sich als stiller Beobachter in diversen Literatencafés auf
- u.a. im Café Arco um den jungen Franz Werfel sowie im Café Louvre,
wo sich die Anhänger des Philosophen Franz von Brentano versammelten. In
diese umtriebige Zeit fallen Kafkas erste längere Prosatexte: eine erste
Studie zum späteren Amerika-Roman, die Beschreibung eines Kampfes (1904)
und Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande (1906) - Texte, die Kafka später
für seine Publikationen (Betrachtung, 1912) verwendet hat: Seine Arbeitsweise
bestand überhaupt darin, daß er sich mehr oder weniger absichtslos
dem Schreiben überließ und später aus dem vorhandenen Material
zusammenstellte.
Über das Ziel seines Studiums, seine Promotion, äußerte sich
Kafka halb belustigt, halb sarkastisch, und er wunderte sich im nachhinein,
daß er die Prüfungen überhaupt bestanden hatte. Der Spott über
das trockene, sinnleere Rechts- und Advokatenwesen schwingt noch in Kafkas beiden
großen Romanfragmenten Das Schloß (ab 1914) und Der Prozeß
(erste Entwürfe 1914, Niederschrift ab 1922) mit. Bezeichnenderweise war
der Doktor der Rechte für 15 Jahre - bis zu seiner Pensionierung - nacheinander
in den Assicurazioni Generali sowie der oben bereits erwähnten Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt
tätig: Er arbeitete sich vom »Aushilfsbeamten« und »Anstaltsconcipisten«
bis zum »Obersekretär« mit 30 Untergebenen empor - was er nicht
zuletzt wegen seiner Formulierungsgabe und juristischen Vorbildung zustande
brachte.
Zeit seines Lebens behielt Kafka ein tiefes Gefühl des eigenen persönlichen
Unwerts, und ebenso abschätzig dachte er über seine laufende schriftstellerische
Produktion. Bei Durchsicht seiner Papiere zu Amerika bzw. Der Verschollene las
er [..] zuerst mit gleichgültigem Vertrauen, als wüßte ich aus
der Erinnerung genau die Reihenfolge des Guten, Halbguten und Schlechten darin,
wurde aber immer erstaunter und kam endlich zu der unwiderlegbaren Überzeugung,
daß als Ganzes nur das erste Kapitel aus innerer Wahrheit herkommt, während
alles andere, mit Ausnahme einzelner kleinerer und größerer Stellen
natürlich, gleichsam in Erinnerung an ein großes aber durchaus abwesendes
Gefühl hingeschrieben und daher zu verwerfen ist, d.h. von den 400 großen
Heftseiten nur 56 (glaube ich) übrig bleiben. (Brief an Felice, 9./10.
März 1913)
Seine übertriebene Skrupelhaftigkeit führte dahin, daß er im
Alter von 25 Jahren noch keine Zeile veröffentlicht hatte, während
viele seiner Zeitgenossen schon in der Schulzeit erste Gedichte und Erzählungen
publizierten und ihre Schreiberei zur Schau stellten.
Nachdem er sich 1905 endlich dazu durchringen konnte, Max Brod das Manuskript
der Beschreibung eines Kampfes zum Lesen zu geben, brach dieser in Begeisterung
aus, lobte in einem Zeitungsartikel den noch völlig unbekannten Franz Kafka
als einen der hoffnungsvollen jungen Schriftsteller und brachte seinen Schützling
mit dem Literaten und Herausgeber Franz Blei zusammen, in dessen Zeitschrift
Hyperion - gleich in der ersten Ausgabe und neben Rilke, Hofmannsthal und Heinrich
Mann - Kafkas erste Texte (die er später inden Erzählband Betrachtung
aufnahm) gedruckt wurden.
Max Brod stellte 1912 auch den Kontakt mit dem Verleger Kurt Wolff her, der
sich von Kafkas Texten beeindruckt zeigte. Allerdings zog sichdie Publikation
seiner Werke - Betrachtung (1912), Der Heizer (1913), Die Verwandlung (1915),
Das Urteil (1916), In der Strafkolonie (1919), Ein Landarzt (1920), Ein Hungerkünstler
(1924) - schleppend hin: Wolff zögerte und suchte nach einer Möglichkeit,
Kafkas schwierige Texte irgendwie mit Gewinn auf den Markt zu bringen; der unsichere
Kafka wiederum drängte nicht sonderlich auf eine Beschleunigung seiner
Angelegenheiten. Daran konnten auch seine engsten Freunde nicht viel ändern:
Ihren Zusprüchen und Ermunterungen stand er freundlich, aber skeptisch
gegenüber, ihren positiven Kritiken mißtraute er hartnäckig,
an seinen Fähigkeiten zweifelte er dermaßen, daß er das Lob
seiner Freunde eben ihrer Freundschaft zugute schrieb. Und diese Selbstzweifel
waren auch ein Grund dafür, weshalb seine drei Versuche scheiterten, eine
eigene Familie zu gründen.
Familie und Kinder betrachtete Kafka als eines der höchsten Güter.
Doch für seine eigene Person glaubte er, dieses bürgerliche Glück
ausschließen zu müssen. Gleichwohl hat er sich - nach jeweils heftigen
inneren Kämpfen - dreimal verlobt und nach einer kurzen Spanne jedesmal
die Verlobung wieder aufgelöst: zweimal mit Felice Bauer, einmal mit Julie
Wohrycek. Zwischendurch gab es allerdings noch zwei kleinere Affären und
eine heimliche Geschichte mit Grete Bloch, einer Freundin von Felice, aus der
sogar - nach Aussagen Grete Blochs und ohne Kafkas Wissen - ein Sohn hervorging,
der jedoch nach sieben Jahren verstarb.
Felice Bauer (geb. 1887) - Tochter eines Versicherungsagenten - war den Zeugnissen
nach eine unkomplizierte, lebenslustige und praktisch veranlagte junge Frau,
die mit ihren Eltern in Berlin lebte. Als Kafka sie 1912 auf einer Gesellschaft
bei Max Brod kennenlernte, arbeitete sie gerade als Prokuristin in einer Firma,
die Diktiergeräte und sogenannte ,Parlographen' herstellte. Zwischen den
beiden auch äußerlich grundverschiedenen Menschen entspannte sich
binnen weniger Wochen ein exorbitanter Briefwechsel, der mit kurzen Unterbrechungen
fünfeinhalb Jahre anhielt und dessen eine - Kafkasche - Hälfte uns
erhalten geblieben ist. Felice Bauer hatte offenbar wenig Sinn für die
Skrupel und literarischen Ambitionen ihres Briefpartners, was Kafka nicht davon
abhalten sollte, ihr alle diese Skrupel und Pläne minutiös auseinanderzulegen.
Bald wurden sie vertraut miteinander, doch eigentlich niemals intim, auch als
sie schon ein Paar waren.
Das lag wesentlich daran, daß sich diese (Liebes-) Geschichte fast ausschließlich
auf dem Papier abspielte - Kafka schickte mitunter dreimal täglich einen
Brief oder eine Karte los, ohne die Antworten abzuwarten. Gesehen haben sich
die beiden Liebesleute bloß ein paar Mal in Berlin, in Prag, in der Böhmischen
Schweiz und während eines kurzen gemeinsamen Aufenthaltes in Marienbad;
körperlichen Kontakt dürften sie wohl so gut wie keinen miteinander
gehabt haben - am 6. Juli 1916 notierte Kafka in sein Tagebuch: »Arme
F. [..]. Unglückliche Nacht. Unmöglichkeit, mit F. zu leben. Unerträglichkeit
des Zusammenlebens mit irgend jemandem. vage Illusion eines Menschen, an den
er sich regelmäßig schriftlich wenden konnte. Was er an Felice bewunderte,
waren ihre Geduld, ihre Güte und Stärke, ihre Gesundheit und praktische
Veranlagung, doch eigentlich fand er sie unerotisch - er zog es daher vor, in
zahllosen, teils episch angelegten Briefen zu schmachten, zu jammern, zu säuseln
oder sich zu rechtfertigen, er räsonnierte über die gemeinsame Zukunft
und setzte immer wieder seine eigene Person herab.
Fast ein ganzes Jahr vor der ersten Verlobung richtete sich Kafka brieflich
an Felices Vater, Herrn Carl Bauer: Von Hochzeit usw. muß bereits die
Rede gewesen sein, er stellte sich nochmals offiziell vor und suchte nicht etwa
um die Hand der Tochter an, sondern breitete sich vielmehr über die Gründe
aus, weshalb es zu dieser Verbindung niemals kommen sollte - er sei von der
Literatur besessen und würde Felice unglücklich machen: Sie soll es
ertragen, ein klösterliches Leben neben einem Mann zu führen, der
sie zwar lieb hat, wie er niemals einen andern lieb haben kann, der aber kraft
seiner unabänderlichen Bestimmung die meiste Zeit in seinem Zimmer steckt
oder gar allein herumwandert? Sie soll es ertragen, gänzlich abgetrennt
von ihren Eltern und Verwandten und fast von jedem andern Verkehr hinzuleben,
denn anders könnte ich, der ich meine Wohnung selbst vor meinem besten
Freunde am liebsten zusperren würde, ein eheliches Zusammenleben mir gar
nicht denken.
Ende Mai 1914 kam es trotzdem zur Verlobungsfeier in Berlin, eine Woche später,
am 6. Juni, notierte ein hörbar niedergeschlagener Franz Kafka in sein
Tagebuch: Aus Berlin zurück. War gebunden wie ein Verbrecher. Hätte
man mich mit wirklichen Ketten in einen Winkel gesetzt und Gendarmen vor mich
gestellt und mich nur auf diese Weise zuschauen lassen, es wäre nicht ärger
gewesen. Und das war meine Verlobung, und alle bemühten sich, mich zum
Lachen zu bringen, und da es nicht gelang, mich zu dulden, wie ich war.
Einen Monat später löste er die Verlobung folgerichtig wieder auf.
Anschließend stockte der Briefwechsel für ein paar Monate, doch kam
es bald zu einer neuen Annäherung - Felice scheint bis zuletzt, bis zur
Diagnose der Krankheit, auf ein Zusammenleben mit Kafka gehofft zu haben. Im
Juli 1917 kam es zur zweiten Verlobung, die nach zwei Monaten ebenfalls wieder
aufgelöst wurde. Im September stellten die Ärzte an seiner Lunge eine
Tuberkulose fest - für Kafka ein idealer Vorwand, sich ein weiteres Mal
zurückzuziehen. An Felice schrieb er nachts vom 30. 9. zum 1. 10. 1917:
Im übrigen sage ich Dir ein Geheimnis, an das ich augenblicklich selbst
gar nicht glaube [..], das aber doch wahr sein muß: ich werde nicht mehr
gesund werden. Eben weil es keine Tuberkulose ist, die man in den Liegestuhl
legt und gesund pflegt, sondern eine Waffe, deren äußerste Notwendigkeit
bleibt, solange ich am Leben bleibe. Und beide können nicht am Leben bleiben.
Kafka und Felice trennten sich endgültig voneinander - Kafka mit dem Vorsatz,
sich an keine Frau mehr binden zu wollen - ohne Erfolg. Felice Bauer heiratete
1918 einen wohlhabenden Berliner Geschäftsmann und wanderte in den 30er
Jahren über die Schweiz in die Vereinigten Staaten aus, wo sie 1960 verstarb.
Im Herbst 1918 wollte sich Kafka für ein paar Monatein Schelesen, einem
kleinen Ort nördlich von Prag, erholen und lernte dort Julie Wohrycek,
eine junge Prager Jüdin, kennen. Ihre Begegnungen kamen anfangs über
ein verlegenes, zwanghaftes Lachen und Kichern auf beiden Seiten kaum hinaus,
und sie trennten sich zunächst wieder - Kafka noch seines Vorsatzes in
Bezug auf Frauen eingedenk. Doch in Prag trafen sich die beiden wieder und verliebten
sich leidenschaftlich - es kam 1919 zu einer fast heimlichen Verlobung mit auf
dem Fuße folgender Auflösung derselben; Kafka entschuldigte sich
und war doch in Gedanken schon bei der leicht exzentrischen Milena Jesenská,
seiner Übersetzerin, Freundin und zweiten großen Briefpartnerin.
Milena Jesenská stammte aus Prag und lebte damals in Wien; sie führte
mit dem Prager Bohemien und notorischen Sexprotz Ernst Polak eine unglückliche
Künstlerehe; ihr Mann betrog sie bei jeder Gelegenheit, ihr Vater hatte
sie wegen dieser Verbindung mit einem jüdischen Habenichts schon enterbt,
und sie versuchte, mit Zeitungsartikeln und Übersetzungen ihren Lebensunterhalt
zu verdienen. An Kafka wandte sie sich mit der Bitte, seine Werke ins Tschechische
übersetzen zu dürfen; zahlreiche Briefe wechselten hin und her, bis
der scheue Kafka und die impulsive Milena sich persönlich füreinander
zu interessieren begannen. Doch Kafka zögerte noch, sich mit der jungen
Frau zu treffen, er hatte auch völlig grundlos ein schlechtes Gewissen
ihrem Gatten gegenüber - grundlos schon deshalb, weil sich niemals das
Geringste zwischen ihnen abgespielt hat. Schließlich verbrachten Milena
und er doch ein paar unbeschwerte Tage in Wien. An Max Brod berichtete Milena
später, sie habe es fertiggebracht, Kafka für Augenblicke seine Angst
vor den Dingen des Lebens zu nehmen.
Angesichts seiner schweren Lungen- und Kehlkopftuberkulose zeigte sich der sonst
ängstliche Kafka nicht übermäßig betroffen. Vielmehr schien
er so etwas geahnt zu haben, es mußte so kommen, am Ende stand keine Genesung,
sondern nur der Tod - Kafka schaute seinem Ableben ruhig, fast stoisch entgegen.
Noch ein halbes Jahr vor seinem Ende (1924) schrieb der inzwischen frühpensionierte
und von den Ärzten aufgegebene Dichter an der humorvollen, essayistischen
Erzählung Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse - ein
Text, der sich wunderbar versponnen um die Definition seines Gegenstandes bemüht:
eine egozentrische Sängerin, die sich für eine große Diva hält,
im Grunde aber gar nicht singen, sondern nur - ganz ordinär - pfeifen kann
und von der Bevölkerung bewundert wird, obwohl oder gerade weil ihr das
Publikum nicht richtig zuhört und heute niemand mehr etwas von Gesang versteht
- was Josefine zu ahnen scheint ..
Diesen in jeder Zeile lustvoll-geistreichen Text über das aberwitzige Verhältnis
zwischen Kunst, Künstler und Publikum hat ein sterbenskranker Dichter verfaßt,
dessen Lebenswerk zum Großteil aus unveröffentlichten Roman-Fragmenten
und Erzählungen bestand, die er sämtlich durch Max Brod verbrennen
lassen wollte. Sein ungehorsam treuer Freund führte diesen Wunsch jedoch
nicht aus.
Für die letzten, äußerlich noch um vieles glanzloserenMonate
seines Lebens fand Kafka in dem ostjüdischen Mädchen Dora Diamant
eine Gefährtin, die sich vorbehaltlos um seine Bedürfnisse kümmerte
und ihn zur Ruhe kommen ließ. Kafka verwirklichte endlich seinen Traum,
Prag zu verlassen: Die beiden mieteten eine kleine Wohnung im Berliner Stadtteil
Steglitz, lebten aus der Hand in den Mund und machten Pläne. Mit Dora studierte
Kafka die Thora und den Talmud, und beide träumten davon, in Tel Aviv ein
kleines Restaurant aufzumachen: Die in häuslichen Dingen unerfahrene Dora
sollte in der Küche stehen, der linkische, lungenkranke Kafka die Gäste
bedienen. Daraus wurde jedoch nichts. Nicht zuletzt aufgrund der schlechten
Ernährung im Inflationswinter verschlechterte sich Kafkas gesundheitlicher
Zustand rapide, er mußte in ein Sanatorium gebracht werden, doch es bestand
schon keine Hoffnung mehr.
In den letzten Wochen vor seinem Tod konnte Kafka oft weder Nahrung aufnehmen
noch sprechen. Er führte Konversationshefte, las Korrekturfahnen für
seine letzte Publikation (Ein Hungerkünstler) und beobachtete den Fortgang
der Krankheit. Am 3. Juni 1924 ist Franz Kafka gestorben.
Werke: (e = entstanden; a = Uraufführung):
- Romane: Amerika / Der Prozeß / Das Schloß - Erzählungen:
Betrachtung / Kinder auf der Landstraße / Entlarvung eines Bauernfängers
/ Der Kaufmann / Der Fahrgast / Zum Nachdenken für Herrenreiter / Unglücklichsein
/ Das Urteil / Die Verwandlung / In der Strafkolonie / Ein Bericht für
eine Akademie
Romane
1927 (1911-14 e) Amerika (= Der Verschollene) (Frgm.)
1925 (1914-15 e) Der Prozeß (Frgm.)
1926 (1935 erw.; 1922 e) Das Schloß (Frgm.)
Erzählungen; kleine Prosa
1908 (1903/04) Die Bäume
1936 (1904/05 e) Beschreibung eines Kampfes (Frgm.; 2 Fass.)
1908(1907 e) Der Kaufmann
1953(1907/08 e) Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande (Frgm.; 3 Fass.)
1912 Der plötzliche Spaziergang
1912 Entschlüsse
1913 (1912 e) Das Urteil
1913 Der Heizer (= 1. Kap. von: Amerika)
1915 (1912 e) Die Verwandlung
1915 (1914 e) Vor dem Gesetz (aus: Der Prozeß)
1919 (1914 e) In der Strafkolonie
1935 (1914-15 e) Der Dorfschullehrer (= Der Riesenmaulwurf) (Frgm.)
1919 (1916/17 e) Auf der Galerie
1917 Ein Landarzt
1919 (1917 e) Eine kaiserliche Botschaft (aus: Beim Bau der chinesischen Mauer)
/ Ein Bericht für eine Akademie / Die Sorgen des Hausvaters / Das nächste
Dorf
1921 (1917 e) Der Kübelreiter
1931 (1917 e) Der Jäger Gracchus / Beim Bau der chinesischen Mauer / Der
Schlag ans Hoftor / Der Nachbar
1931 (1920 e) Kleine Fabel
1936 (1920 e) Die Truppenaushebung / Heimkehr / Der Steuermann
1922 Ein Hungerkünstler
1931(1922 e) Forschungen eines Hundes
1936 (1922 e) Gibs auf / Der Aufbruch
1931 (1923/24 e) Der Bau (Frgm.)
Autobiographisches
1952 (1919 e) Brief an den Vater
Ausgaben der Erzählungen zu Lebzeiten
1912 Betrachtung (18 kurze Erzählungen)
1919 Ein Landarzt . Kleine Erzählungen (14)
1924 Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten
Ausgaben aus dem Nachlass
1931 Beim Bau der chinesischen Mauer (19 Erzählungen)
1953 Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß
1936 / 1954 erw. Beschreibung eines Kampfes (29 Novellen, Skizzen, Aphorismen)
Kleine Fabel
"Ach", sagte die Maus, "die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst
war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich,
daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen
Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer
bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe." - "Du
mußt nur die Laufrichtung ändern", sagte die Katze und fraß
sie.
Gibs auf!
Es war sehr früh am Morgen, die Straße rein und leer, ich ging zum
Bahnhof, als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, daß es
schon viel später war, als ich geglaubt hatte , ich mußte mich sehr
beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher
werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise
war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos
nach dem Weg. Er lächelte und sagte: "Von mir willst du den Weg erfahren?"
"Ja", sagte ich, "da ich ihn selbst nicht finden kann."
"Gibs auf, gibs auf", sagte er und wandte sich mit einem großen
Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.
Amerika
Der sechzehnjährige Karl Roßmann wurde von seinen Eltern nach Amerika
geschickt, weil ein Dienstmädchen ihn verführt und ein Kind von ihm
bekommen hat. Bei der Ankunft im New Yorker Hafen vergißt er seinen Regenschirm
unter Deck und läuft zurück, um ihn zu holen. Er verirrt sich auf
dem Schiff und trifft auf den Heizer, der ihm erzählt, wie ungerecht er
von seinem Vorgesetzten behandelt wird. Karl folgt ihm zum Kapitän und
hält für den Heizer eine Verteidigungsrede. Ein Senator Jakob, der
während der Szene anwesend ist, gibt sich als Karls Onkel zu erkennen.
Er nimmt Karl bei sich auf, verstößt ihn aber nach einiger Zeit,
weil Karl gegen seinen Willen eine Einladung eines Herrn Pollunder angenommen
hat.
In einem Wirtshaus lernt Karl die Vagabunden Delamarche und Robinson kennen.
Bald muß er jedoch feststellen, daß die beiden ihn ausnützen
und bestehlen wollen. Er verläßt sie und findet im großen Hotel
Occidental eine Anstellung als Liftboy. Nachdem Karl seinen Dienst zwei Monate
lang tadellos erfüllt hat, erscheint der völlig betrunkene Robinson
im Hotel und lädt ihn ein, sich ihm und Delamarche wieder anzuschließen.
Karl weigert sich. Da behauptet Robinson, nicht mehr gehen zu können und
übergibt sich in den Treppenschacht. Karl bittet einen Kollegen, seinen
Lift zu bedienen und schafft Robinson in den Schlafsaal der Liftboys. Aufgrund
dieser Vorkommnisse wird Karl vom Oberkellner entlassen, und auch die Oberköchin,
die ihn bislang protegiert hat, kann ihm nicht helfen. Bevor er das Hotel verlassen
kann, ergreift ihn der sadistische Oberportier und durchsucht seine Taschen.
Karl flieht und läßt seine Jacke mit seinen Ausweispapieren zurück.
In einem Taxi sucht Karl mit Robinson das Weite. Der Wagen hält vor dem
Haus, das Robinson und Delamarche gemeinsam mit der Sängerin Brunelda bewohnen.
Karl kann den Rest des Fahrgelds nicht bezahlen. Ein Polizist kommt hinzu und
will ihn wegen seiner fehlenden Ausweispapiere verhaften, aber Karl flieht erneut.
Delamarche versteckt ihn vor der Polizei, hält ihn aber wie einen Gefangenen.
Er soll als Diener für Brunelda arbeiten.
Als Karl ein Plakat liest, auf dem das Naturtheater von Oklahoma Personal sucht,
fährt er nach Clayton, um sich zu bewerben. Dort trifft er eine Bekannte,
die als Engel verkleidet mit vielen gleichartig verkleideten Frauen Posaune
bläst. Obwohl es Schwierigkeiten gibt, weil Karl keine Ausweispapiere hat,
bekommt er eine Stelle als technischer Arbeiter und wird von den Zirkusleuten
mitgenommen.
Fragment 1: In einem durch aufgestapelte Kästen abgetrennten Teil des Zimmers
wird Brunelda von Delamarche gewaschen. Karl und Robinson müssen Hilfsdienste
leisten. Sie gehen zur Zimmerwirtin, um Frühstück zu holen. Nur mit
Mühe können sie sie überreden, ihnen wenigstens die Frühstücksreste
der übrigen Gäste zu überlassen.
Fragment 2: Brunelda will das Haus verlassen und Karl schiebt sie in einem Handkarren
durch die Straßen. Brunelda ist unter einer grauen Decke versteckt. Gegenüber
Passanten behauptet Karl, er würde Äpfel transportieren. Schließlich
kommen sie bei einem Unternehmen an, dessen Verwalter sie unfreundlich begrüßt.
Kommentar (Amerika) - Der unvollendete Roman Amerika, der aus der 1913 separat
veröffentlichten Erzählung Der Heizer entstand, ist in mancher Hinsicht
ein Ausnahmefall im Werk Franz Kafkas. Der Autor selbst war, wie Max Brod berichtet
hat, überzeugt, »daß dieser Roman hoffnungsfreudiger und 'lichter'
sei als alles, was er sonst geschrieben hat.« Kafkas Erzählstil nähert
sich in diesem Roman außerdem viel stärker dem konventionellen Erzählen
an als in seinen übrigen Werken: In Amerika gibt es eine Handlung im Sinne
einer fortlaufenden Kette von Ereignissen; es fehlt das quälend Statische,
die Lähmung der Helden, die in einer bedrohlichen und ungewissen Situation
fixiert sind.
Doch trotz der erzählerischen Dynamik weist das Schicksal des Helden von
Amerika sehr ähnliche Züge auf wie das der anderen Kafkaschen Helden:
Karl Roßmann ist von vornherein das Opfer der Situation; bereits im ersten
Satz wird uns mitgeteilt, daß Karl Roßmann von den Eltern nach Amerika
geschickt worden ist, weil ein Dienstmädchen ihn verführt und ein
Kind von ihm bekommen hat. Wenig später erfahren wir allerdings, daß
es schon eher eine Vergewaltigung war, die bei dem halbwüchsigen Karl Roßmann
nichts als Ekel und Abscheu erregt hat. Daß ihn die Eltern deshalb nach
Amerika geschickt haben, ist offensichtlich eine grobe Ungerechtigkeit, die
Karl jedoch gar nicht als solche wahrzunehmen scheint. Gerade in seiner Eigenart,
sein Schicksal geduldig auf sich zu nehmen, erweist sich Karl Roßmann
als typische Kafka-Figur.
Dabei hat Karl ein ausgeprägtes und leicht zu mobilisierendes Gerechtigkeitsempfinden,
wie an seiner Parteinahme für den Heizer erkennbar wird. Doch bleibt dieses
Gerechtigkeitsempfinden naiv. Er zeigt kein Verständnis für die sozialen
Rahmenbedingungen der Situation. Wie kindlich Karl in seiner selbstgewählten
Anwaltsrolle agiert, belegt seine emotionale Reaktion über die seiner Meinung
nach gelungenen Ausführungen des Heizers: Er drückt seine Freude aus,
indem er am Schreibtisch des Oberkassierers »eine Briefwaage immer wieder
niederdrückte vor lauter Vergnügen.«
Mit dem Motiv der ungerechten Behandlung und dem verzweifelten Versuch, Recht
zu bekommen, exemplifiziert die Heizer-Episode das Thema, das den gesamten Roman
durchzieht. Im folgenden ist es Karl, der haarsträubend ungerecht behandelt
wird, ohne daß es ihm möglich wäre, sich Gerechtigkeit zu verschaffen.
Zunächst hat er unverdientes Glück, als ihn sein hochgestellter Onkel
bei sich aufnimmt. Bald jedoch verstößt in der Onkel wieder, ohne
daß der Grund auch nur im mindesten nachvollziehbar wäre. Zunächst
gibt der Onkel Karl »scheinbar freudig« die Erlaubnis, die Einladung
des Herrn Pollunder anzunehmen. Als die Einladung dann konkret wird, findet
der Onkel beständig Einwände dagegen und schreibt zuletzt in dem Brief,
mit dem er Karl wegschickt, von einem »allgemeinen Angriff« gegen
ihn, den hinzunehmen gegen seine »Prinzipien« verstoßen würde.
Für Karl bleibt es letztlich rätselhaft, warum der Onkel so empfindlich
reagiert hat. Doch liegt es auf der Hand, daß der Onkel ein pathologischer
Tyrann ist, der die geringste Auflehnung gegen seinen Willen, auch gegen seinen
unausgesprochenen, so brutal wie möglich bestraft. Der Zweck der Einladung
des Herrn Pollunder bleibt ebenso verborgen wie die Motive des Onkels. Pollunder
will offensichtich, daß Karl seine Tochter kennenlernt. Was er damit bezweckt
und was die Tochter eigentlich von Karl will, bleibt rätselhaft. Teilweise
sieht es so aus, als hätte die Tochter ein sexuelles Interesse an Karl,
der eine Zeitlang in Gefahr zu sein scheint, zum zweiten Mal von einer Frau
vergewaltigt zu werden. Andererseits hat sie ein Verhältnis mit Karls Bekanntem
Mack, den sie demnächst heiraten will, was wiederum gegen die Hypothese
spricht, ihr Verhalten sei von erotischem Interesse bestimmt. Auf diese Weise
kommt weder der Held noch der Leser hinter die eigentlichen Beweggründe
für das Verhalten der Figuren; man kann nur Hypothesen aufstellen, die
jedoch niemals eindeutig sind.
Viel weniger rätselhaft als diese Oberschicht-Amerikaner sind die Vagabunden
Robinson und Delamarche. Zunächst geht es ihnen darum, Karl nach Kräften
auszunehmen. Karl bemerkt ihre Absicht und hat zum zweiten Mal Glück, als
ihn die Oberköchin des Hotels Occidental aufnimmt. Max Brod hat bemerkt,
daß manche Szenen in Amerika an die Filme von Charlie Chaplin erinnern.
Deutlich wird die Parallele, wenn man an die Fabrikarbeit Charlies in Modern
Times und Karl Roßmanns Tätigkeit als Liftboy denkt. Die Bedienung
der modernen Technik wird bei Chaplin wie bei Kafka zu einer unmenschlichen
Aufgabe, die das Subjekt zwingt, selbst wie eine Maschine zu funktionieren.
Daß Karl entlassen wird, weil er für zwei Minuten seine Arbeitsstelle
verlassen hat, nachdem er bereits zwei Monate lang seinen Dienst tadellos versehen
hat, gibt ein Beispiel für die unmenschliche Strenge, mit der alle Kafkaschen
Helden konfrontiert werden.
Das Hotel hat damit einen ähnlichen Status wie die Behörden im Prozeß
und im Schloß, nur daß es hier kapitalistische Betriebe statt bürokratischer
Anstalten sind, die als Machtinstanzen dem Helden gegenübertreten. Doch
auch wenn die Brutalität offensichtlicher ist und in Handgreiflichkeiten
ausartet, ist der Machtapparat in Amerika weniger furchteinflößend
als in den anderen Romanen Kafkas. Es fehlt die Anonymität. Die Träger
der Macht sind sichtbare Menschen aus Fleisch und Blut. Die Tyrannei ist unmittelbarer
und impulsiver und geht stärker vom einzelnen Individuum aus als von einem
anonymen Apparat.
Nicht nur die Vorgesetzten im Hotel, auch die gleichgestellten Vagabunden werden
von Herrschsucht und Bosheit getrieben. Wirkliche Freundschaft scheint es in
dieser Welt nicht zu geben. Niemandem kann man trauen, und alle menschlichen
Beziehungen sind brüchig. Die einzigen Ausnahmen scheinen die Oberköchin
und ihre Sekretärin Therese zu sein, auch wenn die Oberköchin Karls
Geschichte nicht glaubt. Diese beiden Frauen bleiben die einzigen Menschen,
die für Karl freundliche Gefühle haben und ihn gut behandeln; alle
übrigen Frauen, vom vergewaltigenden Dienstmädchen bis zur hysterischen
Brunelda, sind tyrannisch und besitzergreifend.
Aus Theresas Weinen bei Karls Entlassung muß man wohl schließen,
daß sie ihn liebt - doch daß Karl dieses Gefühl erwidern würde,
erfährt man an keiner Stelle. Überhaupt scheint Karl für niemanden
positive Gefühle zu haben. Wir erfahren nur von Gefühlen des Ekels
und des Abscheus. Für Kafkas Helden gibt es keine Liebe, nicht weil er
niemanden finden könnte, der ihn liebt, sondern weil er selbst nicht lieben
kann. Sein ganzes Sinnen und Trachten scheint nur auf Anpassung abzuzielen.
Er ist strebsam und brav, und wenn die himmelschreienden Ungerechtigkeiten nicht
wären, wäre er in Amerika bestimmt schon etwas geworden. Seine Persönlichkeit
scheint überhaupt keine Substanz zu besitzen. Sein Charakter weist keine
individuellen Züge auf. Er hat keine anderes Ziel, als irgendwo ein biederer
Angestellter zu sein, der seine Pflichten so gut er kann erfüllt. Durch
Strebsamkeit glaubt er sich einen Platz in der Gesellschaft erobern zu können,
doch daß es emotionale Bindungen zwischen Menschen geben kann, das wird
ihm nicht klar. So bleiben seine Lebensmöglichkeiten beschränkt. Er
kann die liebenswerten Menschen nicht an sich binden und gerät immer wieder
unter die boshaften und tyrannischen Charaktere. Doch am Ende des Textes, im
zweiten Fragment, hat sich Karl mit dieser Welt abgefunden: »Auf solche
Reden hörte Karl kaum mehr hin, jeder nützte seine Macht aus und beschimpfte
den Niedrigen. War man einmal daran gewöhnt, klang es nicht anders als
das regelmäßige Uhrenschlagen.«
Florian Wolfrum
Der Prozeß
Der Bankangestellte Josef K. wird eines Morgens von zwei Männern verhaftet
und später verhört, ohne daß er wüßte, wessen er
sich schuldig gemacht haben könnte. Er wird zwar gleich wieder auf freien
Fuß gesetzt, doch lebt er fortan unter Anklage. Sein Prozeß läuft,
und Josef K. hat nicht die geringste Ahnung, wogegen er sich verteidigen könnte.
Auf Drängen seines Onkels nimmt er sich einen Anwalt, den alten Advokaten
Dr. Huld. Er hat viele Kontakte zum Gericht und sich überdies auf solche
schwierigen Fälle spezialisiert. Doch nicht einmal dieser Anwalt bekommt
die Anklageschrift zu Gesicht und erfährt nur Gerüchte und Andeutungen
der Gerichtsdiener und untersten Richter.
Der nervöse Josef K. leidet unter den allseits kursierenden Gerüchten
über seinen Prozeß. Seine Arbeit in der Bank kann er nur noch mit
größter Mühe bewältigen. Er ist bald unzufrieden mit seinem
Verteidiger, da er den Eindruck hat, dieser liege nur krank im Bett und unternehme
in seinen Fall so gut wie nichts. Der Angeklagte beschließt, sich von
dem Advokaten wieder zu trennen und seine Verteidigung selbst zu übernehmen.
Von seiner Bank wird Josef K. an einem verregneten Nachmittag in den Dom gebeten,
angeblich um einem kunstliebenden Geschäftsfreund des Hauses die Sehenswürdigkeiten
zu zeigen. Statt dessen wartet ein Gefängniskaplan auf den unsicher eintretenden
Josef K. und hält ihm von der Kanzel herab eine laute Strafpredigt. Im
anschließenden Gespräch erzählt ihm der Geistliche die Parabel
vom Gesetz und dessen Torhüter.
Im letzten Kapitel des Fragment gebliebenen Romans wird Josef K. abends um neun
Uhr von zwei Männern abgeführt, mit einem Auto zu einem alten Steinbruch
gefahren und hingerichtet.
Das Schloß
An einem Winterabend kommt K. in einem Dorf an und will im dortigen Brückengasthof
übernachten. Nach kurzer Zeit wird er vom Sohn des Schloßkastellans
geweckt und nach seiner Aufenthaltserlaubnis gefragt. K. gibt sich als Landvermesser
aus. Nach einem Telefongespräch mit dem Schloß stellt sich heraus,
daß man tatsächlich einen Landvermesser erwartet. Am nächsten
Tag werden K. zwei Männer zugeteilt, die behaupten, seine alten Landvermessergehilfen
zu sein. Der Bote Barnabas überbringt ihm den Brief eines Beamten namens
Klamm, in dem ihm seine Aufnahme in die gräflichen Dienste als Landvermesser
mitgeteilt wird.
Im Gasthaus Herrenhof, in dem die Beamten des Schlosses verkehren, lernt K.
die Schankkellnerin Frieda kennen, die Geliebte Klamms. Sie verbringen ihre
erste Liebesnacht im Schankraum und wollen heiraten. Vom Dorfvorsteher erfährt
K., daß überhaupt kein Landvermesser benötigt wird und die Berufung
auf einem viele Jahre zurückliegenden Irrtum basiert. Klamm läßt
ihm jedoch mitteilen, daß er mit seiner Landvermesserarbeit sehr zufrieden
sei. K. kann den Irrtum nicht richtigstellen, weil es für ihn keine Möglichkeit
gibt, mit Klamm zu sprechen.
K. nimmt in seiner Not einen Posten als Schuldiener an und zieht mit Frieda
ins Schulgebäude um. Er jagt die Gehilfen, die ihm lästig geworden
sind, fort. Frieda erzählt K., die Wirtin des Brückengasthofs habe
behauptet, K. habe sie nur aus Berechnung zu seiner Geliebten gemacht. Bei einem
Besuch der Schwestern seines Boten Barnabas erfährt K., warum ihre Familie
im Dorf völlig isoliert ist: Amalia hat den unsittlichen Brief eines Schloßbeamten
zerrissen und dem überbringenden Boten ins Gesicht geworfen. Da Frieda
nun glaubt, daß K. sie mit einer der Schwestern betrügt, verläßt
sie K. zugunsten seines ehemaligen Gehilfen. Kurz darauf wird K. von einem Beamten
der Befehl erteilt, das Verhältnis mit Frieda zu beenden. K. erlebt die
morgendliche Aktenverteilung im Herrenhof, was streng verboten ist. Er lernt
das Zimmermädchen Pepi kennen, die ihm ihr Schicksal erzählt und behauptet,
Frieda hätte ihrerseits die Affäre mit K. aus Berechnung begonnen.
Sie bietet ihm an, im Zimmer der Stubenmädchen zu wohnen. K. hat eine Auseinandersetzung
mit der Wirtin. Vom Autor geplanter, nicht ausgeführter Schluß: K.
setzt seine Bemühungen fort, mit dem Schloß in Kontakt zu treten,
stirbt jedoch vor Entkräftung. Kurz darauf trifft die amtliche Erlaubnis
ein, die K. gestattet hätte, im Dorf zu leben und zu arbeiten.
Das Urteil
Der junge Kaufmann Georg Bendemann schreibt einen Brief an einen Freund in
Petersburg, worin er ihm seine Verlobung anzeigt. Anschließend betritt
er das Zimmer seines alten Vaters, um ihm von dem Brief zu erzählen. Der
Vater erscheint ihm hilflos und gebrechlich, und er beschließt, ihn nach
seiner Heirat mit in den künftigen Haushalt zu nehmen. Vorläufig trägt
er den alten Herrn ins Bett, der sich jedoch erhebt und seinem Sohn unvermittelt
die ungeheuerlichsten Vorwürfe macht: Er habe den Freund verraten, das
Geschäftsvermögen des Vaters vergeudet und das Andenken der verstorbenen
Mutter geschändet. Der Vater erklärt ihm, daß er seit Jahren
mit dem Petersburger Freund in Verbindung stehe, und verurteilt Georg zum Tod
durch Ertrinken. Georg nimmt das Urteil an und stürzt sich von einer Brücke
in den Fluß. Kommentar (Das Urteil) - Kafkas Vater gehört
zweifelsohne zu den meistbemühten außerliterarischen Figuren auf
dem Gebiet der Interpretationsversuche poetischer Texte. Er kann geradezu als
Symbol für all jene Annäherungsweisen an Literatur gelten, die diese
auf ein mehr oder weniger verschlüsseltes Verarbeiten individueller Erlebnisse
des Autors reduzieren und im Aufweisen von Parallelen zwischen Leben und Werk
das Ziel der Beschäftigung mit Literatur sehen.
Anhand von Kafkas Erzählung Das Urteil läßt sich dieses 'Deutungsmodell'
besonders gut vorführen: hier scheint sich die Not eines jungen Mannes
zu artikulieren, der vom übermächtigen Vater (»'Mein Vater ist
noch immer ein Riese', sagte sich Georg«) an der Verwirklichung der eigenen
Lebensziele gehindert wird. Seine Verlobung wird mißbilligt, sein beruflicher
Erfolg als Nutznießertum abgewertet. Durch die autoritäre, verständnislose
Haltung des Vaters wird der junge Mann letztendlich vernichtet. Der Versuch
der Rebellion (den Vater »zudecken«) scheitert. Das patriarchalische
Obrigkeitssystem siegt.
Sieht man genauer auf den Text, will dieses Interpretationsschema nicht so recht
überzeugen. Zwar läßt sich die Tatsache, daß Georg Bendemann
das Urteil annimmt und freiwillig ausführt noch als Zeichen für die
vollständige Verinnerlichung der Machtstrukturen auslegen. Eine Reihe von
Fragen bleibt jedoch unbeantwortet. Eine 'biographistische' Lesart gibt insbesondere
wenig Aufschluß darüber, warum das Verhältnis zum Petersburger
Freund einen so großen Raum einnimmt und welche Rolle diese Figur im Generationenkonflikt
überhaupt spielen soll; völlig offen bleibt auch, worin die - angebliche
oder echte - Schuld Georgs besteht.
Wie so oft bei Kafka, wird der Leser mit einem absurden Geschehen konfrontiert:
Ein Mann wird von seinem Vater zum Tode verurteilt, weil er den Kontakt mit
einem im Ausland lebenden Freund nicht intensiv genug gepflegt hat. Will man
sich nicht darauf beschränken, hierin eine 'kafkaeske' Parabel für
die Sinnlosigkeit der von undurchschaubaren Instanzen bestimmten Welt zu sehen,
wie in den Romanen Der Prozeß, Das Schloß etc., so muß im
Text nach Hinweisen für ein näheres Verständnis der Geschichte,
so der Untertitel, gesucht werden.
Auffällig ist die umständliche Begründung Georgs für sein
»besonderes Korrespondenzverhältnis« mit dem Petersburger Freund,
das dazu führt, daß »keine eigentlichen Mitteilungen«
gemacht werden. Man erfährt nichts von der Beziehung zwischen beiden; lediglich,
daß Georgs Rücksichtnahme dazu geführt hat, dem Freund alles
Persönliche zu verschweigen. Dezente Schonung statt tätiger Hilfe
- mit diesem Verhalten macht sich Georg 'schuldig'. Die Frage des Vaters, ob
Georg denn wirklich einen Freund in Petersburg habe, zielt nur scheinbar auf
die reale Existenz der fraglichen Person ab. Der Zweifel bezieht sich auf die
Bezeichnung Freund. So trifft die Behauptung: »'Du hast keinen Freund
in Petersburg'« den Tatbestand auf qualitativer Ebene tatsächlich.
Selbst der letzte Brief, in dem er seine Verlobung endlich doch mitteilt, ähnelt
in der steifen Formulierung eher einem Geschäftsbrief: »Es wird sich
noch Gelegenheit finden, Dir Näheres über meine Braut mitzuteilen,
heute genüge Dir, daß ich recht glücklich bin [...]«.
Georgs Kontakt zu anderen Personen ist offenbar völlig formalisiert. So
gilt seine Sorge um den alten Vater nicht dessen seelischen Befinden, sondern
richtet sich auf technische Details wie Ernährung und Kleidung. Selbst
das Verhalten gegenüber der Braut erweist sich als problematisch. Er stimmt
der Kritik des Vaters zu, als dieser behauptet: »'Wenn du solche Freunde
hast, Georg, hättest du dich überhaupt nicht verloben sollen'«.
Die Bemerkung des Vaters, er habe sich der Frau nur zugewandt »weil sie
den Rock gehoben« habe, scheint darauf hinzuweisen, daß es ausschließlich
sexuelle Gründe für die Verbindung gibt.
Diese Unfähigkeit mit der Außenwelt in eine emotionale Beziehung
zu treten, führt der Vater in seinem Urteil als Begründung an: »Jetzt
weißt du also, was es außer dir gab, bisher wußtest du nur
von dir. Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher
warst du ein teuflischer Mensch!«
Die dem Kind zugebilligte Ich-Bezogenheit schlägt im Erwachsenenalter um:
Georgs Ur-Mangel schließt ihn von der menschlichen Gemeinschaft aus, macht
ihn zum Un-Menschen. Insofern erweist sich der Vater tatsächlich als »der
viel Stärkere«: Er ist - bei allen noch so tyrannischen Charakterzügen
- in der Lage zu fühlen und somit zwischenmenschlichen Kontakt einzugehen.
Er nimmt sich des Petersburger Freundes an. Er trauert um die verstorbene Gattin,
während bei Georg keinerlei emotionale Regung zu entdecken ist.
Damit ist nicht gesagt, daß der Vater als positive Identifikationsfigur
zu verstehen sei. Aber gegenüber dem völlig gelähmten, quasi-autistischen
Georg vertritt er das Lebendige. Dieses vitale Prinzip berechtigt ihn nach der
Logik des Textes zur Verurteilung des Sohnes. Das Urteil ist keine persönliche
Abrechnung, sondern beschreibt einen fast naturhaften Vorgang, als wenn ein
Organismus eine abgestorbene Zelle ausschiede.
Wichtig ist jedoch, daß Georg die Notwendigkeit des Ganzen selbst erkennt.
Er stirbt nicht als Unwissender. Seine Erkenntnis hat dann in der Tat den Tod
zur Konsequenz. Bereits im ersten Absatz der Erzählung 'besiegelt' Georg
sein Todesurteil, als er den Brief an den Freund verschließt. Nicht zufällig
wandert sein Blick »auf den Fluß, die Brücke« - den Ort
seiner Hinrichtung. Indem er seine Verlobung mitteilt, bricht er nicht nur sein
bisheriges Verhaltensmuster, sondern gesteht sich implizit sein Versagen ein:
»Ich kann nicht aus mir einen Menschen herausschneiden, der vielleicht
für die Freundschaft mit ihm geeigneter wäre, als ich es bin.«
So ist der Brief auch der Anlaß für die 'Enthüllungen' des Vaters;
der Akt der Erkenntnis fällt mit dem Urteil zusammen. »Wie lang hast
du gezögert, ehe du reif geworden bist!« Erst diese Reife macht aber
das Urteil möglich; Georg nimmt es an und führt es selber aus. Die
Erkenntnis der Ausgeschlossenheit von der menschlichen Gemeinschaft läßt
keinen anderen Ausweg als den Tod, ja ist bereits der Tod.
Die Verwandlung
Eines Morgens wacht der Handlungsreisende Gregor Samsa auf und hat sich in
einen Riesenkäfer verwandelt. Er ist besorgt, daß er seiner beruflichen
Tätigkeit nicht mehr nachkommen und sich und seine Familie nicht mehr ernähren
kann. Der Prokurist der Firma, der sich wegen Gregors Ausbleiben erkundigen
will, verläßt entsetzt die Wohnung. Gregor versteht zwar was die
anderen sagen, kann selbst jedoch nur unartikulierte Laute von sich geben. Anfangs
läßt man ihm noch einige Anteilnahme zukommen, die Schwester kümmert
sich um seine Bedürfnisse, doch mit der Zeit verwahrlost Gregor zunehmend.
Als er sich eines Nachmittags ins Wohnzimmer verirrt, verliert der Vater die
Beherrschung und wirft mit Äpfeln nach ihm. Ein Apfel bleibt in seinem
Rücken stecken und ruft eine Entzündung hervor. Während sich
Gregor tödlich angeschlagen in seinem verdreckten und abgedunkelten Zimmer
aufhält, beobachtet er die Vorgänge in der Wohnung: Die Eltern und
seine Schwester haben eine Arbeit gefunden und an drei Herren wurde untervermietet.
Eines Abends steckt Gregor seinen Kopf wieder ins Wohnzimmer, während sich
die Untermieter dort aufhalten. Es kommt zum Eklat. Für die Familie steht
nun fest, daß er fortgeschafft werden muß. In diesem Augenblick
verlassen Gregor seine Kräfte - er schleppt sich mit letzter Kraft in sein
Zimmer und stirbt.
In der Strafkolonie
Die Strafkolonie befindet sich auf einer Insel irgendwo in den Tropen. Ein
Reisender kommt, mit vielen behördlichen Empfehlungsschreiben ausgestattet,
für ein paar Stunden zu Besuch und wohnt einer Hinrichtung bei. Der Verurteilte
soll auf ein Bett gelegt und von einer durch einen komplizierten mechanischen
Apparat bewegten Egge mit zahllosen kleinen Nadeln langsam zu Tode gefoltert
werden; der - ihm nicht bekannte - Urteilsspruch wird in seine Haut geritzt.
Der zuständige Offizier erklärt dem Reisenden alles bis ins Detail
und versucht, ihn für die vom alten Kommandanten ersonnene Maschine und
die mit ihr verbundene Rechtsprechung zu gewinnen, da der neue Kommandant ein
Gegner des Ganzen ist. Der Reisende spricht sich seinerseits aber gegen diese
Form der Hinrichtung aus. Daraufhin läßt der Offizier den bereits
festgeschnallten Verurteilten frei und legt sich selbst unter die Egge. Der
Reisende verläßt den Ort und kann gerade noch vermeiden, daß
der Verurteilte und ein Soldat mit ihm die Insel verlassen.
Ein Landarzt
In einer Winternacht wird der Landarzt zu einem schwerkranken Jungen gerufen,
doch sein Pferd ist in der vorangegangenen Nacht vor Überanstrengung gestorben.
Er weiß nicht, wie er den Krankenbesuch abstatten soll. Da entdeckt er
jedoch einen Pferdeknecht in seinem Stall mit zwei Pferden. Der fremde, wilde
Knecht fragt gleich, ob er anschnallen lassen soll: Der Preis für die Fahrt
sei das Dienstmädchen Rosa, über das er sich hermachen will. Der Landarzt
ist empört und lehnt ab. Schließlich hockt er aber doch in der Kutsche,
während sich hinter ihm der Knecht auf das Mädchen stürzt.
Der Landarzt kommt an das Bett des Jungen, der gar nicht krank zu sein scheint.
Als der Arzt die umstehenden Verwandten beruhigen will, entdeckt er in der Seite
des Jungen eine handtellergroße rosafarbene Wunde, die von Würmern
befallen ist. Die Eltern des Jungen packen den Arzt, entkleiden ihn und legen
ihn an die Seite des Jungen. Die beiden Pferde strecken ihre Köpfe zum
Fenster herein und der Landarzt faßt den Entschluß zu fliehen. Er
wirft seine Sachen in den Wagen und springt hinterher; halbnackt jagt er durch
das nächtliche Schneetreiben zurück nach Hause.
Schakale und Araber
Ein Reisender lagert mit einer Karawane von Arabern in der Wüste. Seine
Nachtruhe wird durch das Geheul der Schakale gestört, die um das Lager
herumschleichen. Der Anführer der Schakale spricht den Reisenden sogar
an, ob er den Tieren nicht helfen möchte, sie von der Plage der Araber
zu befreien. Die Araber schlachteten Tiere, so der Schakal, um sie zu essen,
und befleckten insofern die Welt, wohingegen die Schakale die Natur vom Aas
reinigten, dessen Blut sie austränken. Schließlich tritt ein Araber
mit einer Peitsche hinzu und jagt die Tiere auseinander. Den heulenden Schakalen
wirft er noch ein totes Kamel vor.
Ein Bericht für eine Akademie
Ein Affe berichtet den 'Hohen Herren' einer Akademie von seiner allmählichen
Menschwerdung. In Afrika wurde er mitten aus seiner Herde heraus angeschossen,
auf ein Schiff geschleppt und nach Europa gebracht, um dort verkauft und dressiert
zu werden. Im engen Schiffskäfig auf Unterdeck wurde ihm klar, daß
eine Flucht unmöglich war und daß ihn nur eines retten konnte: Er
mußte sich anpassen und einen Ausweg finden. Er begann damit, daß
er sich der insgesamt freundlichen Besatzung des Frachters anpaßte, daß
er die Pfeife rauchte, sich zum Schnapstrinken überwand - und mit einem
Mal entfuhr ihm auch ein menschlicher Laut. Also brauchte er nur so zu tun,
als sei er ein Mensch, und schon würde ihm die Menschennatur zuteil werden.
Äußerlich ist er Tier geblieben. Er hat nach wie vor ein Fell und
tritt im Varieté auf. Er konnte jedoch seine Affennatur ablegen und sich
die durchschnittlichen Kenntnisse und Fertigkeiten eines Mitteleuropäers
aneignen, um nicht hinter den Käfiggittern eines Zoos zu landen.