2.Die frühneuhochdeutsche
Literatur-Renaissance/Humanismus/Reformation (1350 - 1600)
Begriffe - Renaissance [frz. = Wiedergeburt] und Humanismus
- europäische Bewegung, besonders in Italien vertreten
- Gegenbewegung zur Scholastik und der damaligen kirchlichen Autorität
- Früh- (1420-1500), Hoch- (1500-1533) und Spätrenaissance (1533-1600)
- Wiedergeburt des Gedankenguts aus der Antike (allseitig ausgebildete Menschlichkeit,
individuelle Persönlichkeitsentfaltung, »Der Mensch ist das Maß
aller Dinge«)
- Die Renaissance ist eine europäische Bewegung
der Wiederbelebung antiker Kunst und Gedanken. Der Epochenbegriff wird von Zeitgenossen
nicht benutzt; stattdessen "reformatio". Im 19. Jahrhundert wird der
Begriff "Renaissance" in der französischen Kunstgeschichts-Betrachtung
gebraucht, dann übertragen auf die Literatur. / - Humanismus: Rückbesinnung
(im Wesentlichen gelehrter Kreise) auf den Humanitas-Begriff der römischen
Antike.
Historischer Hintergrund: - Entdeckung
Amerikas (1492) / - frühkapitalistische Tendenzen (Fugger) um 1600
- durch den Humanismus bedingte neue astronomische Erkenntnisse, Erfindungen,
Weltbildsveränderung
- erhebliche Kostenersparnisse bei der Buchherstellung durch Gutenbergs Buchdruckmaschine
mit beweglichen Lettern (1445), Bücher erfahren eine größere
Verbreitung
Die Renaissance ist die große gemeineuropäische Kulturepoche, die
die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit umfasst. Sie überwindet das mittelalterliche
Welt- und Menschenbild und die überkommene Staats- und Gesellschaftsordnung.
An die Stelle des Autoritätsglaubens tritt der Geist kritischer Forschung;
der Mensch wird zum Maß aller Dinge; die Staatsraison zum Prinzip der
Politik. Die italienischen Fürstenhöfe - besonders das Florenz der
Medici - sind beispielhaft für Europa.
Das Studium der antiken Literatur wird durch byzantinische Gelehrte angeregt,
die als Flüchtlinge nach der Eroberung von Byzanz (29.5.1453) und Griechenland
(ca. 1420-60) durch die Türken nach Italien gelangen. Kunst- und Lebensauffassung
der Antike gelten den Humanisten als Vorbild. Die Reformation zerstört
die Einheit des Glaubens. Neben der lateinischen Dichtung der Humanisten entwickelt
sich in Deutschland ein reiches literarisches Leben. Durch den Buchdruck werden
die literarischen Erzeugnisse rasch zum Gemeingut aller Gebildeten.
Weltverständnis - Renaissance, Humanismus
und Reformation erwachsen aus der Sehnsucht des Menschen nach geistiger und
religiöser Erneuerung. Sie greifen gleichermaßen auf die antiken
Quellen zurück: Die Renaissance orientiert sich an der römischen Kunst,
der Humanismus erweckt die antiken Philosophen, Historiker und Dichter zu neuem
Leben, die Reformation macht die Bibelübersetzung nach dem griechischen
und hebräischen Urtext verbindlich.
Literarische Formen
- Meistersang (entstanden aus dem höfischen Minnesang), Volkslied (entstanden
aus der niederen Minne)
- Helden-, Ritter-, Abenteuerromane
- Fabeln, Novellen, Schwänke, Fazetien (gesammelt und gebündelt herausgegeben)
- Andachts-, Gebets-, Sterbebüchlein
- Streitgespräche, Fastnachtspiele (Verspottung), Narrenliteratur (Till
Eulenspiegel)
- Volksbücher (Historia von D. Johann Fausten, Die Schildbürger)
Textformen und Gattungen - Die Literatur
des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit ist fast ausschließlich
eine Literatur des Stadtbürgertums. Die Bürger, die durch Handel und
Gewerbefleiß wohlhabend werden und innerhalb ihrer mauerbewehrten Städte
gotische Dome und Rathäuser bauen, drängen auch in der Literatur nach
eigenen Ausdrucksformen. Die Unsicherheit des Lebensgefühls dieser Epoche
spiegelt sich in einer Vielfalt der Literaturgattungen. Minnesang und höfische
Spruchdichtung finden im zunftmäßig organisierten Meistersang zünftiger
Handwerker ihre Nachahmung. Aus den Ritterepen entwickeln sich die Volksbücher,
d.h. unterhaltende Prosaerzählungen. Schwanksammlungen und Fastnachtsspiele
dienen ebenfalls der Unterhaltung. Eine reichhaltige satirische Literatur geißelt
die Missstände der Zeit und die Torheit der Menschen.
Meistersang - Der Meistersang, die Kunstform städtischer
Zunfthandwerker, hat seinen Ursprung in den kirchlich organisierten Singbruderschaften,
die bei Prozessionen und Feiern auftraten und jährlich zweimal Wettsingen
in der Kirche veranstalteten. Die Fahrenden vermittelten ihnen die Kenntnis
der Formen höfischer Lyrik. Die Zurückführung des Meistersangs
auf die 12 alten Meister (Reinmar, Walther, Wolfram usw.) ist spätere Erfindung.
Seine Blüte erlebt der Meistersang um 1500 in Nürnberg.
Der Meistersang ist eine handwerklich-pedantische Kunstform nach äußeren
schulmäßigen Regeln, der Ursprünglichkeit und Natürlichkeit
fehlen. Inhaltlich herrscht trockene Lehrhaftigkeit vor.
Hans Sachs, der Zeitgenosse Albrecht Dürers und Peter
Vischers, wird 1494 in Nürnberg als Sohn eines Schneiders geboren. Nach
dem Besuch der Lateinschule erlernt er das Schuhmacherhandwerk; der Leinenweber
Nunnenbeck führt ihn in die Kunst des Meistersangs ein. Nach einigen Jahren
der Wanderschaft durch Süddeutschland lässt er sich in seiner Vaterstadt
nieder und entfaltet reiche literarische Tätigkeit. Er verfasst über
4000 Meisterlieder, über 1500 Schwänke und etwa 200 dramatische Werke.
1576 stirbt er im Alter von 82 Jahren.
Schwank - Als Schwank wird die dramatische oder epische Darstellung
einer komischen Begebenheit bezeichnet. Die Verspottung eines Dummen durch einen
Gerissenen ist ein häufiges Motiv. Die Charaktere sind meist nur typenhaft
angedeutet; die Handlung ist ohne Rücksicht auf Wahrscheinlichkeit gestaltet.
Die bekanntesten Schwänke stammen von Hans Sachs (s.o.) und Jörg Wickram
("Rollwagen-Büchlein", 1555).
Satire und Narrenliteratur - Sebastian Brant führt 1494
in seinem "Narrenschiff" 112 Narrentypen (Bücher-, Buhl-, Kleider-,
Spiel- und Habsuchtsnarren usw.) vor, die auf einem Schiff nach Narragonien
segeln. Indem er das menschliche Leben als eine gedankenlose Schiffsreise mit
ungewissem Ausgang darstellt, will er seinen Mitmenschen in einem moral-satirischen
Weltspiegel alle Gebrechen, Fehler und Sünden unter dem einheitlichen Begriff
der Narrheit vor Augen stellen. Dabei sind Zeitkritik und Sündenschelte
oft untrennbar miteinander verbunden. Durch die Personifizierung der Laster
und durch eindrucksvolle Holzschnitte wird große Anschaulichkeit erreicht.
Das Werk begründet die so genannte Narrenliteratur mit eigenen Themen und
Motiven, die zwei Jahrhunderte blüht. Von seinen Zeitgenossen wird Brant
neben Homer, Dante und Petrarca gestellt.
Volksbuch und Volkslied - Im Sturm und Drang und in der Romantik
entwickelt sich die Auffassung vom dichtenden Volksgeist, der sich im Volksbuch,
Volkslied, Volksmärchen usw. manifestiere (daher der Name "Volks...").
Heute nehmen wir an, dass auch Volkslieder und Volksbücher auf einzelne
Verfasser zurückgehen.
Die Quellen der Volksbücher sind hochmittelalterliche Epen, französische
Chansons de geste, französische Liebesnovellen, lateinische Heiligenlegenden,
antike Sagen und Tierdichtungen. Auch zeitgenössische oder historische
Persönlichkeiten wie Till Eulenspiegel ("Das Volksbuch vom Eulenspiegel",
1515) und Dr. Faust ("Historia von D. Johann Fausten", 1587) können
im Mittelpunkt stehen. Schwänke oder Magier- und Sagenmotive werden auf
sie übertragen.
Vertreter - Werk und Wirken einzelner Autoren des Humanismus
Der erste Humanistenkreis nördlich der Alpen sammelt sich am Hof Karls
IV. in Prag um dessen Kanzler Johannes von Neumarkt nach 1350. Er steht unter
dem Einfluss von Cola di Rienzo und Petrarca. Hier entstehen Übersetzungen
lateinischer Schriftsteller und Sammlungen von Musterbriefen in der böhmischen
Kanzleisprache. Der "Ackermann aus Böhmen" entstammt diesem Kreis.
Etwa ein Jahrhundert später sammelt sich am Wiener Hof Friedrichs III.
um dessen Sekretär Enea Silvio Piccolomini, den späteren Papst Pius
II., eine Gruppe von Schriftstellern und Übersetzern. Dem Heidelberger
Kreis gehören Wimpfeling, der Historiker und Schöpfer des ersten Humanistendramas,
Johannes Reuchlin (1455-1522), der Verfasser der ersten hebräischen Grammatik,
und der Dichter Celtis an. Der Nürnberger Kreis um Willibald Pirckheimer
ist vorwiegend historisch interessiert. Aus dem Erfurter Kreis entstammen die
so genannten "Dunkelmännerbriefe" von Crotus Rubeanus und Ulrich
von Hutten. Der Wittenberger Kreis um Melanchthon ist reformatorisch und pädagogisch
tätig. Der Augsburger Kreis um Peutinger beschäftigt sich vorwiegend
mit der Geschichte.
Die Dramatiker des Humanismus knüpfen an die Dramen von Terenz, Plautus
und Seneca an, denen sie die Kunst des Aufbaus, die Einteilung in Akte und Szenen,
die Umrahmung des Stücks durch Prolog und Epilog entnehmen. Die neuen Dramen
sollen den Geist des Humanismus und die lateinische Sprache verbreiten. Besonders
das Schultheater an Gymnasien dient diesem ethisch-didaktischen Zweck.
- Johannes von Tepl (Der Ackermann aus Böhmen, Streit zw. Ackermann und
Tod)
- Sebastian Brant (Das Narrenschiff, löste Narrenliteraturflut aus)
- Johann Geiler von Kaisersberg, Jakob Wimpfeling, Thomas Murner, Johann Fischart
- Hans Sachs (Der fahrende Schüler im Paradies, Das Kälberbrüten,
Das heiße Eisen)
Erasmus von Rotterdam, 1469-1536 (bedeutendster Vertreter des
Humanismus, Ständekritik, sehr feine Ironie, lehnte Luthers religiöse
Radikalisierung ab, Das Lob der Torheit) - Erasmus von Rotterdam, der bedeutendste
Humanist, kommt aus der Schule der niederländischen "Brüder vom
gemeinsamen Leben", deren mystische Laienfrömmigkeit bereits reformatorische
Züge aufweist (devotio moderna). Er verbindet die Weisheit der Antike mit
der Ethik des Christentums. Seine heitere Menschlichkeit, gepaart mit Skepsis
und Ironie, sein Sinn für Maß und Harmonie, seine Toleranz und seine
Feindschaft gegen dogmatische Enge stehen im Gegensatz zu den radikalen Forderungen
der Reformatoren.
Martin Luther, 1483-1546 (Reformator, 1517 Thesenveröffentlichung,
Das Neue Testament Deutsch, Übersetzung der Bibel um 1534 ins Deutsche
in einer »allgemein verständlichen Sprache«, Flugschriften
Von der Freiheit eines Christenmenschen und An den christlichen Adel deutscher
Nation) - Luthers Sprache ist das Meißnische, das aus Dialekten der Siedler
aus dem nieder-, mittel- und oberdeutschen Raum entstanden ist. Diese Sprachform
erfüllt er mit dem Geist, dem Wortschatz, der Anschaulichkeit und Schlichtheit
der Volkssprache und wird durch Bibelübersetzung und reformatorische Schriften
("Von der Freiheit eines Christenmenschen" u.a.) zum Wegbereiter der
neuhochdeutschen Schriftsprache. Er prägt viele neue Wörter und Begriffe
(z.B. Feuereifer, Lückenbüßer, Mördergrube), Redensarten
(z.B. das tägliche Brot), bildhafte Gleichnisse (z.B. seine Hände
in Unschuld waschen) sowie eine Fülle von Sprichwörtern (u.a. Unrecht
Gut gedeihet nicht) und geflügelten Worten.
Luther gilt als der Schöpfer des evangelischen Kirchenlieds, das die aktive
Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst ermöglicht. Als Nachdichtungen
lateinischer Hymnen ("Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen"),
angeregt durch Psalmen ("Aus tiefer Not schrei ich zu dir", "Ein
feste Burg ist unser Gott") oder in volksliedhafter Form ("Vom Himmel
hoch, da komm ich her") dichtet er 41 Lieder.
Ulrich von Hutten, 1488-1523 (Unterstützung Luthers, 2.
Teil der Dunkelmännerbriefe) - Der fränkische Ritter Ulrich von Hutten,
der in Köln, Erfurt, Padua und Bologna studiert hat und zeitlebens ein
rastloses Wanderleben führt, ist der Wortführer des aktiv-politisch
patriotischen Humanismus. Er bekämpft Papsttum und römische Kirche
und propagiert ein nationales, geeintes Deutschland unter einem mächtigen
Kaiser. Nach Luthers Vorbild schreibt er auch deutsch. In seinem satirischen
"Gesprächsbüchlein" prangert er kirchliche Missstände
an.