6. Die Epoche der deutschen Klassik (1786-1832)

In jeder Nationalliteratur gibt es eine Phase, die wegen ihrer besonders reichen Entfaltung, ihrer Dichte an Werken von hohem künstlerischem Rang, ihrer Wirkung auf spätere Epochen und ihrer internationalen Bedeutung als die Klassik angesehen wird. Diese Blütezeiten sind in jedem Land chronologisch anders situiert: Was für Spanien das Siglo de Oro (1500-1680), ist für England das elisabethanische Zeitalter, und während die französische Klassik von Corneille bis Racine angesiedelt wird, reicht sie in Italien von Dante bis Tasso. Auffallend weicht hier das deutsche Pendant ab, das nicht nur einen deutlich späteren, sondern vor allem einen wesentlich kürzeren Zeitraum bezeichnet: von Goethes Italienreise 1786-1788 bis zu Schillers Tod 1805. Hinzu kommt, daß die beiden Genannten die mehr oder weniger ausschließlichen Vertreter der Klassik sind, der höchstens noch Wilhelm von Humboldt und - mit seiner theoretischen Schrift Von der bildenden Nachahmung des Schönen (1788) - Karl Philipp Moritz zugeschlagen werden, während gleichzeitige Werke anderer Autoren wie Hölderlin oder Jean Paul, Wieland oder Kleist von der Literaturgeschichtsschreibung nicht der Klassik zugeordnet werden.
Wie läßt sich diese Besonderheit erklären? Wenn überhaupt, dann als das Erreichen eines Kristallisations- und Ruhepunktes, nachdem bis dahin unterschiedliche, z. T. entgegengesetzte Strömungen das deutschsprachige Literaturschaffen geprägt hatten. Das Neuhochdeutsche entwickelte sich relativ spät als Wissenschafts- und Dichtungssprache: Opitz und in seinem Gefolge andere Poetiker schufen die ersten Voraussetzungen dafür, und erst mit Klopstocks Erschließung antiker Versmaße für das Deutsche kann von einer 'poetischen Normalisierung' gesprochen werden. Außerdem war die den gesamten europäischen Kulturraum bestimmende Welt der Antike in Deutschland zwar unabdingbares Repertoire gelehrter Dichtkunst, aber nicht wirklich assimiliertes, poetisch lebendiges Bildungsgut.
Während sich die deutschsprachige Literatur in diesen beiden Hinsichten noch in einem Entwicklungsstadium befand, klaffte in ihr bereits ein tiefer Riß zwischen zwei entgegengesetzten Positionen. Auf der einen Seite forderten die Aufklärer mit ihrer strengen, am französischen Klassizismus orientierten Normpoetik eine Literatur, die Vernunft und Tugendstreben als Ideale darstellen sollte - die Empfindsamkeit dagegen bekämpfte diesen in ihren Augen seelenlosen Rationalismus und zelebrierte subjektiven Gefühlsüberschwang, Freundschaftskult und Schwärmerei. Die Situation radikalisierte sich, als die junge Generation des Sturm und Drang, zu dessen Protagonisten Goethe und Schiller selbst gehörten, zu Beginn der 70er Jahre mit sozialkritischem Impuls und programmatischem Sprengen der Formen dem Establishment den Kampf ansagte.
Doch der Bewegung war jegliche politische Wirkung versagt, die meisten 'jungen Wilden' verstummten, Goethe trat fluchtartig seine Italienreise an - aus privaten Gründen: um dem Druck seiner Verpflichtungen als Minister in Weimar zu entkommen und um von der hoffnungslosen Leidenschaft zu Charlotte von Stein Abstand zu gewinnen; literarisch hatte er seine Sturm-und-Drang-Periode schon vor Jahren abgeschlossen.
Goethes Begegnung mit der Antike, die in den zwei Jahren seines Aufenthaltes südlich der Alpen stattfand, ist einer der Ausgangspunkte der Weimarer Klassik: sie bewirkte einen Wandel in seiner ästhetischen Haltung, und durch diesen vollzog sich nicht nur ein Neubeginn in seinem Leben, sondern auch eine Neuentfaltung seiner früheren, in der ersten Weimarer Phase z. T. stockenden kreativen Energie.
Die Sensibilisierung für die Welt der alten Griechen erfolgte allerdings schon vor seiner Abreise. Der Archäologe und Kunstgelehrte Johann Joachim Winckelmann hatte mit seinem Hauptwerk Geschichte der Kunst des Altertums (1764) einen entscheidenden Beitrag zu einer neuen Wahrnehmung der Antike geleistet, indem er den bis dahin historisch orientierten, auf Rom fixierten Blickwinkel auf das hellenische Altertum lenkte, in dessen Kunst er ein apollinisches Schönheitsideal erfüllt sah, dessen Wesen er mit der berühmten Wortfügung »edle Einfalt und stille Größe« charakterisierte.
Das Winckelmannsche Bild der Antike und sein darin enthaltenes Harmoniestreben wirkten als Katalysator für die Synthese, die Goethe - und dann auch Schiller - während der Periode der Hochklassik aus den zuvor auseinanderstrebenden Tendenzen gelang. Es bot die Vision eines ausgleichenden, organischen Miteinanders von Gefühl und Verstand, Natur und Kultur: eine Vision, die in der formbewußten, auf alles Grelle, Gekünstelte und Gewaltsame verzichtenden Dichtung jenes Doppeljahrzehnts ihren gültigen Ausdruck fand.
Bei Schiller löste eine intensive Auseinandersetzung mit den Schriften Immanuel Kants die Wendung zur Klassik aus. Kants Kritik der Urteilskraft (1790), die eine Ästhetik der Kunst und der Natur entwirft, wurde zum Ausgangspunkt für die zahlreichen eigenen ästhetischen Schriften. Der Aufsatz Über Anmut und Würde (1793) postulierte, über Kant hinausgehend, die Existenz des Schönen nicht nur im Betrachtenden, sondern als Ausdruck der Freiheit in der Erscheinung selbst, was er beim Menschen als »moralische Schönheit« bezeichnete, deren Ausdruck die Anmut sei. Im selben Jahr erschienen die Abhandlungen Vom Erhabenen. Zur weiteren Ausführung einiger Kantischer Ideen und Über das Pathetische, worin die Katharsis als Offenbarung von Freiheit und Wille im Leiden des tragischen Helden beschrieben wird.
Auch Schillers Interesse hatte sich immer mehr der antiken, hellenischen Welt zugewandt, die - wiederum vom Konzept Winckelmanns ausgehend - seinem mythischen Weltbild, in dessen Zentrum der Mensch als moralisch-ästhetische Existenz steht, einen konkreten, sinngebenden Rahmen bot.
Am 21. Juli 1794 kam in Jena das entscheidende Treffen zwischen Goethe und Schiller zustande, die sich bis dahin eher distanziert zueinader verhalten hatten. Nun fand sich »eine unerwartete Übereinstimmung, die um so interessanter war, weil sie wirklich aus der größten Verschiedenheit der Gesichtspunkte hervorging. Ein jeder konnte dem anderen etwas geben, was ihm fehlte, und etwas dafür empfangen« (Schiller an Körner). 1795 erschien Schillers Aufsatz Über naive und sentimentalische Kunst, in dem er die antike Poesie der Griechen als naturempfindend in Gegensatz zur Dichtung späterer Zeiten setzte: diese sucht die Natur und stellt Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar, sondern im Verhältnis zum Ideal dar. Mit dieser Definition von realistischem und idealistischem Dichtertum brachte er zugleich den Unterschied zwischen Goethes und seiner eigenen Auffassung auf den Punkt.
Nun begann die Zeit, in der sich die beiden Dichterfürsten trotz - oder gerade dank - ihres unterschiedlichen Temperaments und der differierenden Ausgangspositionen gegenseitig anregten und einen Großteil der Werke schufen, die bis heute das Attribut klassisch für sich in Anspruch nehmen können. Unmittelbares Ergebnis der Zusammenarbeit waren die Zeitschriften Die Horen, Die Propyläen und der Musenalmanach, die zu Organen der klassischen Kunst- und Literaturprogrammatik wurden. Eine echte Koproduktion waren die Xenien (1796), fast tausend bissig-ironische 'Gastgeschenke', die sich provokativ mit einzelnen Personen und Werken der Zeit auseinandersetzten und sowohl persönliche Gegner als auch gesellschaftliche Mißstände, Verirrungen in Kunst und Wissenschaft sowie literarische Plattheiten aufs Korn nahmen.
Vom gegenseitigen Gedankenaustausch beflügelt, konnte der eine wie der andere jetzt die individuelle Produktion in allen literarischen Gattungen zur Entfaltung bringen. Im »Balladenjahr« 1797 schrieb Goethe Der Zauberlehrling, Der Gott und die Bajadere sowie Die Braut von Korinth, Schiller Der Taucher, Der Ring des Polykrates, Der Handschuh, Die Kraniche des Ibykus, und ein Jahr später Die Bürgschaft. Auch des letzteren Ideenlyrik, die mit dem Gedicht Die Ideale (1796) ihren Ausgang nahm, fand in den nächsten Jahren ihre Vollendung mit Das Ideal und das Leben, Der Spaziergang, Nänie und Das Lied von der Glocke.
Mit der für ihn charakteristischen Vielseitigkeit und Energie nahm Goethe nun verschiedene Projekte in Angriff, wobei Schillers Rolle als Kunstrichter ihm entscheidende Impulse gab. Seine Dramen Torquato Tasso, das die Künstlerproblematik beispielhaft auslotet, und Iphigenie auf Tauris, vielleicht das klassische deutsche Drama schlechthin, hatte er bereits 1790 bzw. 1787 in die endgültige, versifizierte Form gebracht. Jetzt machte er sich an die Umarbeitung und Vollendung des Faust-Fragments, die sich insgesamt über elf Jahre hinzog und schließlich als Faust. Der Tragödie erster Teil (erschienen 1808) abgeschlossen wurde - zusammen mit dem zweiten, erst kurz vor seinem Tode vollendetem Teil eines der universalsten Bühnenstücke der Weltliteratur.
Ein weiteres großes Werk, das ebenfalls schon in Jugendjahren begonnen worden war, konnte Goethe nun fertigstellen: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795-1796), das die Romantiker später zum Vorbild, zum konkretisierten Ideal ihrer poetischen Vorstellungen erhoben. Dieser Künstler- und Bildungsroman zeichnet die Entwicklung eines bürgerlichen Theaterdichters vom schwärmerischen Jüngling zum anerkannten Geistesaristokraten nach, dessen Sinnsuche mit der Einordnung in das Praktisch-Tätige endet. Daneben schrieb Goethe das bürgerliche Epos Hermann und Dorothea (1797), den Entwurf des Helena-Aktes für Faust II, das symbolische Drama Die natürliche Tochter (1806), verschiedene kunstkritische Traktate (darunter Shakespeare und kein Ende) und übersetzte Voltaires Dramen Mahomet (1799) und Tancred (1800).
1797 zog Schiller von Jena nach Weimar. Hier entstanden, in der letzten Phase seines Lebens, die großen Geschichtsdramen, die seinen internationalen Nachruhm begründet haben: die Wallenstein-Trilogie: Wallensteins Lager, Die Piccolomini, Wallensteins Tod (1800), Maria Stuart (1801), Die Jungfrau von Orleans (1801), Die Braut von Messina (1803) und Wilhelm Tell (1802/04) sowie das Fragment Demetrius (1815 gedruckt). In ihnen brachte er die deutsche Tragödie auf ein bis dahin nicht erreichtes Niveau; seine Werke beeinflußten das dramatische Schaffen des gesamten 19. Jahrhunderts. In der Polarität von Freiheit und historischem Pessimismus (»Das ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären«) zeichnete er ein dualistisches Menschenbild, dessen Tragik im Konflikt zwischen sittlicher Entscheidung und äußerer Notwendigkeit das Dilemma unserer modernen Welt spiegelt.
1805 starb Friedrich Schiller, Goethe wandte sich dem Jenaer Kreis der Romantik zu. Der vielleicht folgenreichste Abschnitt in der Geschichte der deutschen Literatur war zu Ende gegangen.
Der Begriff "Klassik" bzw. "klassisch" hat mehrere Bedeutungen: - etymologisch: von lat. classicus: römischer Bürger der höchsten Steuerklasse, / dann: scriptor classicus: Schriftsteller ersten Ranges | Klassik: - antikes Altertum / - Blütezeit einer Nationalliteratur bzw. -kunst / - literaturgeschichtliche Epoche in Deutschland
klassisch: Ausdruck für zeitlos gültige, große künstlerische Leistung: - benannt nach »scriptor classicus«, ein Schriftsteller ersten Ranges / - Epoche kultureller Höchstleistungen eines Volkes / - die »Weimarer Klassik« = zweite klassische Epoche nach der weniger bekannten mittelhochdeutschen Klassik um 1200 / - Anknüpfen an die Kunstauffassung der Renaissance, Neuhumanismus / - stand in Verbindung mit der Klassik der Antike (apollinisches Griechenbild)
Historischer Hintergrund: - Französiche Revolution (1789)
- Koalitionskriege, Annexionen Napoléon Bonapartes, Befreiungskriege (1813-15)
Personelle und gesellschaftliche Basis Die Ideen der Klassik wurden hauptsächlich von zwei Dichtern entwickelt und verbreitet: Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) und Friedrich von Schiller (1759-1805). Ort deren Zusammenarbeit war Weimar. Dort residierte Herzog Karl August (1775-1828) über das kleine Fürstentum Sachsen Weimar und Eisenach (ca. 100.000 Einwohner). Der Fürst war "aufgeklärt", d.h. er war bestrebt, für das Wohl seiner Untertanen zu regieren, obwohl er ein absolutistischer Fürst war. (So gab er 1816 als erster deutscher Landesherr seinem Land eine Verfassung). Sein besonderes Interesse galt der Kunst und Wissenschaft. Karl August lud 1775 den 26-jährigen Goethe, den er ein Jahr zuvor kennen gelernt hatte, nach Weimar ein. Goethe war damals v.a. als Autor des 1774 erschienenen Romans "Die Leiden des jungen Werthers" bekannt. Am Hof zu Weimar wurde Goethe Vertrauter und Ratgeber des Herzogs, bald Minister. Neben seiner politischen Tätigkeit fand er viel Zeit zum Dichten und Forschen, er leitete das Hoftheater und unternahm zahlreiche Reisen. Einige davon führten ihn nach Italien (1786, 1788, 1790). Die Italienreise gehörte damals zum Bildungsprogramm junger Adliger und reicher Bürgersöhne. Goethe lernte in Italien die Antike (bzw. deren Überreste) mit eigenen Augen kennen, sie wurde von da an zu seinem entscheidenden Vorbild. (Aus diesem Grunde setzt man auch den Beginn der deutschen Klassik 1786 an.)
Schiller, der aufgrund häufiger Krankheiten, politischer Verfolgung (wegen seines Stückes "Die Räuber") und ständiger Geldsorgen ein weniger geordnetes Leben als Goethe führen musste, wurde 1788 auf Betreiben Goethes als Professor für Geschichte nach Jena berufen. 1794 begannen Freundschaft und Zusammenarbeit mit Goethe. 1799 siedelte Schiller nach Weimar um.
Weimar stellte neben Leipzig und Hamburg eines jener geistigen Zentren im damals aus vielen Einzelstaaten bestehenden Deutschland dar. Reiche Bürger oder kunstbeflissene Fürsten ermöglichten es Künstlern, ohne materielle Sorgen und ohne Rücksicht auf den Massengeschmack ihre Ideen zu verfolgen. Der geistige Austausch in diesen Zentren blieb unbehindert, Deutschlands provinzieller Charakter hatte wenig zu bieten, so nahmen die Gebildeten an den kulturellen und auch politischen Ereignissen der ganzen Welt teil, über die man in Zeitschriften und Büchern berichtete. Dies führte zu einer geistigen Weite, für die man den Begriff "Weltbürgertum" prägte.
Johann Wolfgang Goethe (1749 - 1832) - Wichtige Werke: Dramen: Iphigenie auf Tauris (1787) / Egmont (1787) / Tasso (1790) / Faust I (1808), Faust II (1832) Romane: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1796) / Die Wahlverwandtschaften (1809) / Wilhelm Meisters Wanderjahre (1829) Lyrik: Römische Elegien (1790)
- Iphigenie auf Tauris (1779) - Humanitätsdrama mit antikem Griechenland als Schauplatz, gilt neben Lessings »Nathan der Weise« als Muster des Humanitätsdramas
- Egmont (1787) und Tasso (1790) - Dramen mit eindeutigen Sturm-und-Drang-Naturen
- Faust I (1808) und II (1832) - weltbekanntes Drama, dessen gesamte Entwicklung sich über 60 Jahre hinzog, dementsprechend viele Personen, Schauplätze etc., Teufelsbündnis als zentrales Thema
- Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre (1795 und 1821) - Persönlichkeits- und Gesellschaftsstudie, Muster des Erziehungsromans
- Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1811-33) - dichterisch gestaltete Autobiographie Goethes bis zum Aufbruch nach Weimar 1775
- Vermischte Gedichte (1789) - Sammlung von Gedichten, An den Mond, Erlkönig
- Balladen im Wettstreit mit Schiller, Der Schatzgräber, Der Zauberlehrling
Friedrich Schiller (1759 - 1805) - Wichtige Werke: Dramen: Don Carlos (1787) / Wallenstein (1799) / Maria Stuart (1800) / Wilhelm Tell (1804) Schriften: Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1793) / Über naive und sentimentalische Dichtung (1797) Lyrik: Balladen
- Don Carlos (1787) - politisches Ideendrama, als Familientragödie entworfen
- Über Anmut und Würde (1793) - nach eingehender Beschäftigung mit Kant
- Wallenstein (1798-99) - dramatische Trilogie über den Befehlshaber des kaiserlichen Heeres im Dreißigjährigen Krieg
- Maria Stuart (1800) - historisches, knappes Drama, engl. Königshof als Schauplatz
- Die Jungfrau von Orleans (1801) - Steigerung des Märtyrercharakters Maria Stuarts
- Wilhelm Tell (1804) - beliebtes Schauspiel mit philosophischem Kern, Tell ermordet den Reichsvogt Geßler nach Auswirkungen dessen verbrecherischer Willkürherrschaft
- Balladen im Wettstreit mit Goethe, Der Taucher, Der Handschuh, Die Bürgschaft, weite Entfernung von der volkstümlichen Ballade, dramatische Grundstruktur
Grundideen Wie die Aufklärung ging die Klassik von der Erziehbarkeit des Menschen zum Guten aus. Ihr Ziel war die Humanität, die wahre Menschlichkeit (das Schöne, Gute, Wahre). Doch der Mensch sollte nicht nur einzelne Tugenden (z.B. Toleranz, Nächstenliebe) besitzen, sondern einem Ideal zustreben, das mit den Begriffen "Harmonie" und "Totalität" umschrieben wurde. Dies bedeutete, dass alle menschlichen Kräfte und Fertigkeiten ausgebildet werden sollten: Gefühl und Verstand, künstlerisches Empfinden und wissenschaftliches Denken, theoretisches Erfassen und praktische Umsetzung (Totalität). Dabei sollten diese Eigenschaften aber nicht im Widerspruch zueinander stehen, eine auf Kosten der anderen bevorzugt werden, sondern eine ausgewogene Einheit bilden (Harmonie).
Verwirklicht sah man dieses Ideal in der griechischen Antike; die Griechen des klassischen Altertums hätten - jeder Einzelne und die gesamte Gesellschaft - ihre Kräfte allseitig und harmonisch entfaltet wie kein Volk zuvor oder danach. Als einen weiteren Bereich, in dem das Ideal bereits Wirklichkeit sei, verstand man die Natur. Dieser Gedanke wurde v.a. von Goethe vertreten. Er verstand sich selbst in erster Linie als Naturforscher, nicht als Dichter. Zeit seines Lebens versuchte er die mannigfaltigen Erscheinungsformen der Tier- und Pflanzenwelt auf bestimmte Urformen zurückzuführen (z.B. die Urpflanze), aus denen sich dann seiner Meinung nach die einzelnen, konkreten Formen durch Metamorphose entwickelt haben. Er entdeckte auch den Zwischenkieferknochen beim Menschen (Sutura incisiva Goethei). Das angebliche Fehlen dieses Knochens, der beim tierischen Schädel im Gegensatz zum menschlichen deutlich ausgeprägt ist, hatte vor Goethe als Beweis gegolten, dass der Mensch eine eigenständige Schöpfung der Natur (Gottes) sei. Durch seine Entdeckung zeigte nun Goethe Jahrzehnte vor Darwin den Zusammenhang zwischen Tier- und Menschenwelt und damit die Einheit ("Harmonie") der Natur.
Die Wirklichkeit betrachteten die Klassiker gegenüber ihrem Ideal als unzureichend. Sie verstanden sie als geprägt durch die Arbeitsteilung der Gesellschaft, die den Einzelnen nur auf bestimmte, seinem Beruf zugeordnete Tätigkeiten und Fähigkeiten festlegte (Spezialisierung). Entsprechend herrsche im Menschen selbst ein Zwiespalt zwischen Gefühl und Verstand, Pflicht und Neigung, Denken und Handeln. Deutschland galt als rückständig, provinziell, spießbürgerlich. Große Hoffnungen setzte man zunächst auf die Französische Revolution (1789), war aber dann von deren Verlauf, v.a. der Schreckensherrschaft enttäuscht.
Eine Änderung dieses Zustandes in Richtung auf das Ideals sei daher nicht durch eine revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft zu erreichen (wie es die Französische Revolution versuchte), sondern durch die Veränderung des Einzelnen. Wie in der Aufklärung hielt man die Kunst für ein geeignetes Mittel, dies zu erreichen. Die Kunst sollte aber nicht nur die "Verzuckerung" der Pille sein, die unangenehme Lehren auf angenehme Weise nahe brachte. Die Kunst - so v.a. Schiller - veranschauliche das Ideal, sei ein "Vorschein" des Idealzustandes, seine Vorwegnahme im schönen Schein der Kunst. Durch die Beschäftigung mit dieser Kunst sollten die Menschen allmählich diesem Idealzustand angenähert werden. Dabei nahm man in Kauf, dass dieses Unternehmen sich zunächst auf einen kleinen Kreis von Gebildeten beschränkte, einen Kreis, der sich mit der Zeit vergrößern würde.
Wirkungen auf das Schulsystem Ebenfalls von den Ideen der Klassik beeinflusst und außerdem für die Geschichte des deutschen Schulwesens von entscheidender Bedeutung war der mit Goethe und Schiller befreundete Wilhelm von Humboldt (1767-1835). Während seiner Tätigkeit im preußischen Staatsdienst 1809 leitete er eine Reform des Schulwesens ein, wobei er besonderes Gewicht auf das Gymnasium legte. (Außerdem gründete er die Universität in Berlin.)
Gemäß dem Ideal der Klassik, der allseitigen und harmonischen Entfaltung des Einzelnen und der Gesellschaft, sollte die Schule nicht für einen bestimmten Beruf ausbilden. Eine zu frühe Spezialisierung verhindere die allgemeine Menschenbildung. Diese sei das eigentliche Ziel der Schulbildung und ohnehin die beste Voraussetzung für eine spätere Spezialisierung. Da die Allgemeinbildung nämlich zur Selbstständigkeit führe, sei es später kein Problem, sich auf die speziellen Anforderungen des Berufs einzustellen. Diesen Zielen entsprechend dürfe die Methode des Unterrichts nicht von Drill und Auswendiglernen geprägt sein, sondern von Motivation und selbstständigem Lernen. Der Erfolg dieser Bildung solle durch das Abitur überprüft werden. Das Abitur berechtigte dann zum Studium und höheren Staatsdienst. Eine besondere Rolle bekamen die alten Sprachen Latein und Griechisch. Dies hing mit der erwähnten Tatsache zusammen, dass die deutschen Klassiker in den Griechen der Antike ihr Ideal der Totalität und Harmonie verwirklicht sahen. Die Römer der Antike galten als Vorbild an Tugend, Tatkraft und Vaterlandsliebe.
Die Reform sollte alle Schulen umfassen, man konzentrierte sich aber in der Praxis auf die Gymnasien (Lehrplan, Prüfungsordnung, Lehrerausbildung). Das Schulsystem, auch das Gymnasium, hat seitdem viele Veränderungen erfahren. Dass der Humboldt'sche Bildungsbegriff dennoch überlebt hat, kann man noch heute in den Begriffen "Studierfähigkeit", "Basiswissen", "Allgemeinbildung", "erweiterter Qualifikationsbegriff", "Grundkurse", "Pflichtauflagen" erkennen, die in Richtlinien, Verlautbarungen und in der öffentlichen Diskussion immer wieder auftauchen.
Wirkung Im 19. Jh. entfaltete die deutsche Klassik im Bildungsbürgertum eine ungeheure Wirkung. Zitate aus den Werken Goethes und Schillers wurden zu volkstümlichen Sprichwörtern. Die Lektüre der Klassiker wurde Pflichtpensum in den höheren Schulen, Schillers Dramen beherrschten die Spielpläne der Theater. Dabei entwarf man allerdings ein idealisiertes Bild der deutschen Klassiker. Für die Brüche in ihren Leben und Werk, für das Kritische in vielen ihrer Werke hatte man keinen Blick.