7. Zwischen Klassik und Romantik
Die manchmal geheimnisvollen Wege der Literaturgeschichtsschreibung haben dahin
geführt, daß eine entscheidende Periode der deutschen Literatur,
die etwa das letzte Viertel des 18. und das erste des 19. Jahrhunderts umfaßt,
in zahlreiche Strömungen unterteilt worden ist, die sich teils ablösen,
sich teils überlappen, teils sogar parallel verlaufen. Diese differenzierte
Betrachtungsweise hat den - paradoxen oder folgerichtigen? - Effekt, daß
drei der wichtigsten Autoren dieses Zeitraums ohne Zuordnung zu einer Strömung
'übrig' geblieben sind: Jean Paul, Hölderlin und Kleist. Gelegentlich
als Paraklassik oder Gegenklassik etikettiert, werden sie als etwas sperriger
Block in den einschlägigen literarischen Handbüchern behandelt, wobei
genauso gut Bezeichnungen wie Neben Klassik und Romantik, Weder Klassik noch
Romantik oder Sowohl Klassik als auch Romantik zur Kennzeichnung des literaturhistorischen
Standortes dienen könnten.
Megalithisch ragen die drei genannten Autoren aus der literarischen Landschaft
heraus: nicht einzuordnen und unbequem - am unbequemsten vielleicht jener, der
durch sein behäbiges Äußeres eher als gemütlicher fränkischer
Dorfpoet einzuschätzen wäre: Johann Paul Friedrich Richter, mit Dichternamen
Jean Paul. Diesen wählte er als Zeichen seiner Bewunderung für Jean-Jacques
Rousseau, dessen zwiespältiges Verhältnis zur Aufklärung sich
auf etwas vertrackte Weise bei Jean Paul wiederfinden läßt. Denn
für einen 'echten' Aufklärer war er viel zu empfindsam - die rationalistische
Strenge blieb ihm zeitlebens fremd. Für einen Empfindsamen oder gar einen
Romantiker war er aber wiederum zu analytisch, zu ironisch und auch zu bescheiden.
Jean Paul konnte satirisch sein bis zur Bösartigkeit und gleichzeitig von
tiefer Wärme für alles Menschliche, mit dem er sich ganz und gar verbunden
fühlte, so daß seine Uneinordbarkeit geradezu als programmatisch
angesehen werden kann. Als Meister der Digression (Abschweifung) hinterließ
er eine Reihe von Prosawerken, die manchen heutigen Leser in der Tat eher abschrecken,
und zwar nicht nur wegen ihres Umfangs. An keine Norm gebunden, wechseln sich
bei Jean Paul Passagen von hoher lyrischer Intensität mit ironisch-satirischen
Betrachtungen und naturwissenschaftlich orientierten Ausführungen ab; vor
allem aber durchbricht er permanent die Erwartungshaltung des Lesers, der von
Einschüben, Unterbrechungen, Nebenepisoden und seltsamen Zwischentiteln
dauernd irritiert wird und oft nur mühsam den Gang der spärlichen
Handlung verfolgen kann.
In seinen Erzählungen und Romanen (u. a. Leben des vergnügten Schulmeisterlein
Maria Wuz in Auenthal. Eine Art Idylle, 1793, Hesperus oder die 45 Hundsposttage,
1795, Leben des Quintus Fixlein, aus 15 Zettelkästen gezogen, nebst einem
Mußteil und einigen Jus de Tablette, 1796, Flegeljahre, 1804, Dr. Katzenbergers
Badereise, 1808) läßt er einen Kosmos teils wechselnder, teils wieder
auftauchender skurriler Figuren entstehen, von denen auch seine drei großen
Werke erfüllt sind: Der Titan (1800-1803) mit dem bitter-sarkastischen
Anhang Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch, einer der großen Bildungsromane
der deutschen Literatur, in dem das Erwachsenwerden des Jünglings Albano
erzählt wird, verflochten mit einer undurchschaubaren, scheinbar trivialen
Intrigenhandlung und der Auseinandersetzung mit der Philosophie Fichtes; Der
Komet oder Nikolaus Markgraf (1820-1822), sein letzter, unvollendeter Roman,
die absurd-komische Geschichte eines fränkischen Don Quixote, die mit dem
Wort »Entsetzen« abbricht, und, schließlich Jean Pauls Meisterwerk:
Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten
F. St. Siebenkäs im Reichmarktflecken Kuhschnappel (1796/97).
Als eine in sich geschlossene Welt enthält dieser, bei aller gewollt barockisierenden
Erzählhaltung außerordentlich unkonventionelle Roman einen Reichtum
an Stimmungen, Themen und Einzelbeobachtungen, der an die großen narrativen
Werke der europäischen Moderne denken läßt. Handfeste Gesellschaftssatire
wechselt sich ab mit der hintergründigen Durchleuchtung des Problems der
Identität, kabarettähnliche Szenen aus einer bürgerlichen Ehe
kontrastieren mit dem apokalyptischen Traum, der in der Rede des toten Christus
vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei kulminiert (welche die französische
Romantik stark beeinflußte), an Nonsense grenzende Betrachtungen und Episoden
durchkreuzen eine romantisch-idealistische, ohne jegliche Ironie erzählte
Liebesgeschichte.
Ein Schriftsteller wie Jean Paul ist mir noch nicht vorgekommen, unter allem,
was ich seit jeher gelesen habe. Eine solche Verbindung von Witz, Phantasie
und Empfindsamkeit möchte auch wohl ungefähr das in der Schriftsteller-Welt
sein, was die große Konjunktion dort oben am Planeten-Himmel ist. Einen
allmächtigern Gleichnis-Schöpfer kenn ich gar nicht, notierte Georg
Christoph Lichtenberg.
Im schroffen Gegensatz zu Jean Paul steht Friedrich Hölderlins lyrisch
geprägtes Werk, in welchem - nicht nur aufgrund der Übernahme klassischer
Formen (Oden, Elegien) - eine formale Nähe zur Weimarer Klassik, besonders
zu Schiller, feststellbar ist. Auch bei Hölderlin wird die Welt des antiken
Griechenland zum poetischen Ort der Einheit von Natur und Kultur, doch erschöpft
sich diese (keineswegs zufällige) Übereinstimmung in der gemeinsamen
Begeisterung für diese Epoche, der Hölderlin eine wesentlich tiefere
Bedeutung in seinem geschichtsphilosophischen Gebäude gab als sein württembergischer
Landsmann.
Hölderlin erlebte die Gegenwart als eine Zeit der Götterferne. Die
»leidenden Menschen« fallen »blindlings von einer Stunde zur
andern«, während die Götter »schicksallos«, »in
stiller ewiger Klarheit« weilen. Das Zeitalter der ursprünglichen
Einheit der Menschen mit den Göttern ist versunken; vergeblich bemüht
sich der Titelheld des Briefromans Hyperion oder der Eremit in Griechenland
(1797/99), im Freiheitskampf der Griechen gegen die Türken nicht nur die
Freiheit, sondern auch die alte Welt Griechenlands wiederzugewinnen. Wenn auch
Hyperions politische Träume - ebenso wie sein persönliches Glück
durch den Tod seiner Geliebten Diotima - zerstört werden, so mündet
dieses für Hölderlin charakteristische, pessimistische Bild der Wirklichkeit
nicht in Verzweiflung. In der allumfassenden Natur entdeckt Hyperion schließlich
das Göttliche wieder, das er unter den Menschen vermißt und in der
Liebe zu Diotima gespürt hatte: »Versöhnung ist mitten im Streit
und alles Getrennte findet sich wieder.«
Die Thematik der Versöhnung und des Friedens durchzieht das gesamte Werk
Hölderlins, wovon u. a. Titel wie Der Frieden, Friedensfeier und Versöhnender,
der du nimmergeglaubt zeugen. Aus der Spannung zwischen erlebter Götterferne
und geglaubter Versöhnung definiert sich auch Hölderlins Konzept vom
Dichtertum: der Dichter hat die Aufgabe - und kraft seines Künstlertums
auch die Fähigkeit -, von den »Himmlischen« zu künden.
Damit wird ihm eine Art Priesteramt zugewiesen, das in der Titelfigur des (Fragment
gebliebenen) Dramas Der Tod des Empedokles (1798/99) seine konsequenteste Ausformulierung
gefunden hat. Der griechische Philosoph, Arzt und Priester Empedokles, der als
Volksführer half, die Oligarchie auf Sizilien zu beseitigen, wurde mit
seiner orphischen Mystik zur Vorlage für Hölderlins Helden. Seinen
legendären Freitod in den Flammen des Ätna deutete der Dichter nicht
als Akt der Verzweiflung, sondern als Wiedervereinigung, also auch Versöhnung
mit dem Göttlichen und der Natur.
Die Verbindung von Poesie und Religion basiert auf dem Verständnis von
Sprache als Bewahrerin tiefer, ursprünglicher Geheimnisse, die sich in
der Dichtung offenbaren. Damit eröffnet er die Perspektive auf die europäische
Lyrik der Moderne, in der - von Mallarmé über Valéry, Ungaretti,
Montale, Jiménez, García Lorca bis hin zu Celan, Eich und Huchel
- der Begriff der Sprachmagie eine zentrale Rolle spielt. Hölderlin hat
mit seiner heute noch unverändert faszinierenden Lyrik das theoretisch
Postulierte in poetische Praxis umgesetzt. Klang und Rhythmus bilden mit den
einzelnen Wortbedeutungen und übergreifenden Aussagen eine unauflösliche
Einheit, die in einer solchen Dichte und Schönheit nie mehr gestaltet worden
ist.
Auch die Welt Heinrich von Kleists ist durch die Abwesenheit des Göttlichen
bestimmt, doch ist in seinen Werken - im Gegensatz zu den Hölderlinschen
- die Verbindung zum Numinosen völlig gestört. So steht die Ausweglosigkeit
als zentrales Thema im Kleistschen Ouvre - was bei Hölderlin Schicksal
ist, erscheint bei ihm als Verhängnis. Unentrinnbar, gnadenlos schlägt
es zu; in seinen 1810/11 erschienenen Novellen (darunter Das Bettelweib von
Locarno, Michael Kohlhaas, Die Marquise von O...) ebenso wie in seinen Bühnenwerken.
Das Bild der dem Fatum ausgelieferten, ohnmächtigen Menschen hat Kleist
als dramatisches Grundsatz-Konzept im Essay mit dem - sprechenden - Titel Über
das Marionettentheater dargestellt.
Die aus der Beschäftigung mit Kant und Fichte hervorgegangene erkenntnistheoretische
Position, daß objektive Wahrheit außerhalb des Subjekts nicht gefunden
werden könne, drückt sich in der Darstellung einer Wirklichkeit aus,
in der die handelnden Personen keinen Sinn mehr finden und durch ihre Taten
immer tiefer in Schuld und Leid verstrickt werden. Selbst Kleists Lustspiele
Amphitryon (1807) und Der zerbrochene Krug (1811), in denen die erläuterte
Problematik durch das Motiv der Täuschung besonders deutlich wird, vermögen
die grundsätzliche Tragik menschlichen Tuns nicht aufzuheben.
Ein weitereres Thema durchzieht das Kleistsche Werk: die als Urgewalt der Seele
empfundene Liebe, die jedoch von ihrem Widerpart, dem Haß, bedroht ist
und oft mit ihm eng verbunden erscheint, wenn nicht gar letzterer, wie in Michael
Kohlhaas oder im frühen Trauerspiel Die Familie Schroffenstein (1803) -
einer Wiederaufnahme des Romeo-und-Julia-Stoffes -, völlig überhand
nimmt. Kann die Macht der Liebe im Schauspiel Das Käthchen von Heilbronn
oder Die Feuerprobe (1808) alle Hindernisse überwinden, so begegnet dem
Zuschauer, fast wie eine Vorwegnahme der Dramen Strindbergs, in Penthesilea
(1808) die Haßliebe der Amazonenkönigin zu Achill, die schließlich
zum Tod der beiden führt.
Die »gebrechliche Einrichtung der Welt« zeigt sich auch in Kleists
größtem Drama, Prinz Friedrich von Homburg (erschienen 1821), in
welchem der Titelheld zwar in der Schlacht bei Fehrbellin den Sieg erringt,
aber wegen seines befehlwidrigen Handelns zum Tode verurteilt wird. Die letztendliche
Begnadigung des Prinzen, nachdem er seine Strafe als gerecht akzeptiert und
so das ordnungstiftende Gesetz über die persönliche Freiheit gestellt
hat, löst den zugrundeliegenden tragischen Konflikt nur auf der Ebene der
politischen Praxis auf. Die Schwierigkeiten Friedrichs, dem die Grenzen von
Traum und Wirklichkeit verschwimmen, in der vorgefundenen Welt feste Bezugspunkte
zu gewinnen, bleiben unüberwunden.
Die Literaturwissenschaft außerhalb Deutschlands hat das eingangs angesprochene
Problem dadurch gelöst, daß die gesamte Dichtung vom Sturm und Drang
bis zu Heinrich Heine als Romantik angesehen wird in Analogie zur gängigen
Epocheneinteilung der meisten Nationalliteraturen. Das hat zwar einiges für
sich, läßt aber doch entscheidende Aspekte der literarischen Entwicklung
im deutschsprachigen Raum außer acht. Neuere Ansätze in der deutschen
Philologie gehen dazu über, die gesamte, vor allem im Bibliothekswesen
bewährte Goethezeit als Epoche der Klassik anzusehen, ohne dabei die gegensätzlichen
Strömungen in ein programmatisches Schema zu pressen. Diese Sichtweise
wird zweifellos dem Reichtum an ästhetisch hochwertigen Werken und der
Vorbildfunktion dieses Zeitraums besser gerecht und weist Hölderlin, Jean
Paul und Kleist den Rang zu, den sie ohnehin besitzen: denjenigen echter Klassiker.