Der Knabe und die Schlange
Ein Knabe spielte mit einer zahmen Schlange. "Mein liebes Tierchen",
sagte der Knabe, "ich würde mich mit dir so gemein nicht machen, wenn
dir das Gift nicht benommen wäre. Ihr Schlangen seid die boshaftesten,
undankbarsten Geschöpfe! Ich habe es wohl gelesen, wie es einem armen Landmanne
ging, der eine, vielleicht von deinen Ureltern, die er halb erfroren unter einer
Hecke fand, mitleidig aufhob und sie in seinen erwärmenden Busen steckte.
Kaum fühlte sich die Böse wieder, als sie ihren Wohltäter biß;
und der gute freundliche Mann mußte sterben."
"Ich erstaune", sagte die Schlange, "wie parteiisch eure Geschichtschreiber
sein müssen! Die unsrigen erzählen diese Historie ganz anders. Dein
freundlicher Mann glaubte, die Schlange sei wirklich erfroren, und weil es eine
von den bunten Schlangen war, so steckte er sie zu sich, ihr zu Hause die schöne
Haut abzustreiten. War das recht?"
"Ach, schweig nur", erwiderte der Knabe. "Welcher Undankbare
hätte sich nicht zu entschuldigen gewußt!"
"Recht, mein Sohn", fiel der Vater, der dieser Unterredung zugehört
hatte, dern Knaben ins Wort. "Aber gleichwohl, wenn du einmal von einem
außerordentlichen Undanke hören solltest, so untersuche ja alle Umstände
genau, bevor du einen Menschen mit so einem abscheulichen Schandflecke brandmarken
lässest. Wahre Wohltäter haben selten Undankbare verpflichtet; ja,
ich will zur Ehre der Menschheit hoffen - niemals. Aber die Wohltäter mit
kleinen eigennützigen Absichten, die sind es wert, mein Sohn, daß
sie Undank anstatt Erkenntlichkeit einwuchern."