Die Geschichte des alten Wolfs
Der böse Wolf war zu Jahren gekommen und faßte den gleißenden
Entschluß, mit den Schäfern auf einem gütlichen Fuß zu
leben. Er machte sich also auf und kam zu dem Schäfer, dessen Horden seiner
Höhle die nächsten waren. - »Schäfer«, sprach er,
»du nennst mich den blutgierigen Räuber, der ich doch wirklich nicht
bin. Freilich muß ich mich an deine Schafe halten, wenn mich hungert;
denn Hunger tut weh. Schütze mich nur vor dem Hunger; mache mich nur satt,
und du sollst mit mir recht wohl zufrieden sein. Denn ich bin wirklich das zahmste,
sanftmütigste Tier, wenn ich satt bin.«
»Wenn du satt bist? Das kann wohl sein«, versetzte der Schäfer.
»Aber wann bist du denn satt? Du und der Geiz werden es nie! Geh deinen
Weg!«
Der abgewiesene Wolf kam zu einem zweiten Schäfer. »Du weißt,
Schäfer«, war seine Anrede, »daß ich dir das Jahr durch
manches Schaf würgen könnte. Willst du mir überhaupt jedes Jahr
sechs Schafe geben, so bin ich zufrieden. Du kannst alsdann sicher schlafen
und die Hunde ohne Bedenken abschaffen.«
»Sechs Schafe?« sprach der Schäfer. »Das ist ja eine
ganze Herde!«
»Nun, weil du es bist, so will ich mich mit fünfen begnügen«,
sagte der Wolf.
»Du scherzest; fünf Schafe! Mehr als fünf Schafe opfre ich kaum
im ganzen Jahre dem Pan.«
»Auch nicht viere?« fragte der Wolf weiter, und der Schäfer
schüttelte spöttisch den Kopf.
»Drei? - Zwei?«
»Nicht ein einziges«, fiel endlich der Bescheid. Denn es wäre
ja wohl töricht, wenn ich mich einem Feinde zinsbar machte, vor welchem
ich mich durch meine Wachsamkeit sichere kann.«
»Aller guten Dinge sind drei«, dachte der Wolf und kam zu einem
dritten Schäfer.
»Es geht mir recht nahe«, sprach er, »daß ich unter
euch Schäfern als das grausamste, gewissenloseste Tier verschrien bin.
Dir, Montan, will ich jetzt beweisen, wie unrecht man mir tut. Gib mir jährlich
ein Schaf, so soll deine Herde in jenem Walde, den niemand unsicher macht als
ich, frei und unbeschädigt weiden dürfen. Ein Schaf? Welche Kleinigkeit!
Könnte ich großmütiger, könnte ich uneigennütziger
handeln? - Du lachst, Schäfer? Worüber lachst du denn?«
»O über nichts! Aber wie alt bist du, guter Freund?« sprach
der Schäfer.
»Was geht dich mein Alter an? Immer noch alt genug, dir deine liebsten
Lämmer zu würgen.«
»Erzürne dich nicht, alter Isegrim! Es tut mir leid, daß du
mit deinem Vorschlage einige Jahre zu spät kommst. Deine ausgerissenen
Zähne verraten dich. Du spielst den Uneigennützigen, bloß, um
dich desto gemächlicher, mit desto weniger Gefahr nähren zu können.«
Der Wolf ward ärgerlich, faßte sich aber doch und ging zu dem vierten
Schäfer. Diesem war eben sein treuer Hund gestorben, und der Wolf machte
sich den Umstand zunutze.
»Schäfer«, sprach er, »ich habe mich mit meinen Brüdern
im Walde veruneinigt und so, daß ich mich in Ewigkeit nicht wieder mit
ihnen aussöhnen werde. Du weißt, wieviel du von ihnen zu fürchten
hast! Wenn du mich aber anstatt deines verstorbenen Hundes in Dienste nehmen
willst, so stehe ich dir dafür, daß sie keines deiner Schafe auch
nur scheel ansehen sollen.«
»Du willst sie also«, versetzte der Schäfer, »gegen deine
Brüder im Walde beschützen?«
»Was meine ich denn sonst? Freilich.«
»Das wäre nicht übel! Aber wenn ich dich nun in meine Horde
einnähme, sage mir doch, wer sollte alsdann meine armen Schafe gegen dich
beschützen? Einen Dieb ins Haus nehmen, um vor den Dieben außer dem
Hause sicher zu sein, das halten wir Menschen ... «
»Ich höre schon«, sagte der Wolf, »du fängst an
zu moralisieren. Lebe wohl!«
»Wäre ich nicht so alt!« knirschte der Wolf. »Aber ich
muß mich leider in die Zeit schicken.« Und so kam er zu dem fünften
Schäfer.
»Kennst du mich, Schäfer?« fragte der Wolf.
»Deinesgleichen wenigstens kenne ich«, versetzte der Schäfer.
»Meinesgleichen? Daran zweifle ich sehr. Ich bin ein so sonderbarer Wolf,
daß ich deiner und aller Schäfer Freundschaft wohl wert bin.«
»Und wie sonderbar bist du denn?«
»Ich könnte kein lebendiges Schaf würgen und fressen, und wenn
es mir das Leben kosten sollte. Ich nähre mich bloß mit toten Schafen.
Ist das nicht löblich?
Erlaube mir also immer, daß ich mich dann und wann bei deiner Herde einfinden
und nachfragen darf, ob dir nicht . . . «
»Spare der Worte!« sagte der Schäfer. »Du müßtest
gar keine Schafe fressen, auch nicht einmal tote, wenn ich dein Feind nicht
sein sollte. Ein Tier, das mir schon tote Schafe frißt, lernt leicht aus
Hunger kranke Schafe für tot und gesunde für krank anzusehen. Mache
auf meine Freundschaft also keine Rechnung und geh!«
»Ich muß nun schon mein Liebstes daran wenden, um zu meinem Zwecke
zu gelangen!« dachte der Wolf und kam zu dem sechsten Schäfer.
»Schäfer, wie gefällt dir mein Pelz?« fragte der Wolf.
»Dein Pelz?« sagte der Schäfer. »Laß sehen! Er
ist schön; die Hunde müssen dich nicht oft untergehabt haben.«
»Nun, so höre, Schäfer: Ich bin alt und werde es so lange nicht
mehr treiben. Füttere mich zu Tode, und ich vermache dir meinen Pelz.«
»Ei, sieh doch!« sagte der Schäfer. »Kommst du auch hinter
die Schliche der alten Geizhälse? Nein, nein; dein Pelz würde mich
am Ende siebenmal mehr kosten, als er wert wäre. Ist es dir aber Ernst,
mir ein Geschenk zu machen, so gib ihn mir gleich jetzt.«
Hiermit griff der Schäfer nach der Keule, und der Wolf floh.
»O die Unbarmherzigen!« schrie der Wolf und geriet in äußerste
Wut.
»So will ich auch als ihr Feind sterben, ehe mich der Hunger tötet;
denn sie wollen es nicht besser!«
Er lief, brach in die Wohnungen der Schäfer ein, riß ihre Kinder
nieder und ward nicht ohne große Mühe von den Schäfern erschlagen.
Da sprach der weiseste von ihnen: »Wir taten doch wohl unrecht, daß
wir den alten Räuber auf das Äußerste brachten und ihm alle
Mittel zur Besserung, so spät und erzwungen sie auch war, benahmen!«