1. Die alt- und mittelhochdeutsche
Literatur (500-1500)
Allgemeines - vor der Christianisierung las und schrieb im
deutschen Sprachraum fast niemand
- erste schriftliche Überlieferungen
Begriff - Den Begriff prägten die Humanisten für
die Zeit zwischen des Verfall der Antike und ihrer vermeintlichen Wiedergeburt
(Renaissance). Seit dem 17. Jh. wird in Lehrbüchern die Weltgeschichte
in die Alte, Mittlere und Neue Geschichte gegliedert. Durch die Ausweitung des
Geschichtsbildes im 19.Jh. wurde die Brauchbarkeit des Begriffs M. für
die Periodisierung der Weltgeschichte fragwürdig. Manche glaubten ein typisches
M. in den entsprechenden Perioden aller Kulturen zu finden (griech. M., japanisches
M. usw.), doch blieb der Name M. besonders für die Geschichte des christlichen
Abendlandes zwischen Altertum und Neuzeit vorbehalten.
Historischer Hintergrund + Historische Grundlagen (Stichworte):
- Karl der Große (742 - 814) seit 768 König der Franken, nach 800
Kaiser - Lehnswesen
- Reichsbildung der Germanen (Heiliges Römisches Reich) - Kirche Träger
der Kultur
politisch: Lehenssystem (König als Lehensherr,
Fürsten als Vasallen, erhalten Land von ihm, sind ihm zu Treue und Gefolgschaft
im Krieg verpflichtet), ständiger Streit zwischen König/Kaiser und
Fürsten um Macht, kein fester Bestand staatlicher Institutionen, kein staatliches
Gewaltmonopol; außerdem Streit zwischen Kaiser und Papst um die Führung
im christlichen Abendland / sozial: Ständegesellschaft: Adel, Bauer, Bürger;
strenge Trennung, Geburt bestimmt Stand; Adel als Grundherr (Herrscher über
Land und Leute) Bauern als Hörige in Abhängigkeit vom Grundherrn (Abgaben,
Frondienst), daneben Bürgertum in Städten (Handwerk, Handel) / ökonomisch:
Dominanz der Agrarwirtschaft, langsames Aufkommen des Geldes, verdrängt
Naturaltausch; Handwerk, Handel in Städten (Zünfte)
Weltbild - Alle Einschränkungen,
Ausnahmen, Grenzphänomene (z.B. Ketzerbewegung) umfassend, stellt das Weltbild
des Mittelalters letztlich ein geschlossenes, kohärentes, hierarchisch
gegliedertes Bild einer kosmischen Ordnung dar (ordo). Gott ist die Spitze der
Seinspyramide, das höchste Seiende (summum ens), der erste Beweger aller
Dinge (primum mobile). Der Mensch - als Krone der Schöpfung - ist Bindeglied
zwischen der geistig-spirituellen (guten) und der materiellen (bösen) Welt.
Er verkörpert den Kampf zwischen Gut und Böse, Gott und dem Teufel,
Erlösung und Erbsünde. Wie der Mensch ist die Natur von Gott geschaffen
und wird von ihm gelenkt. Die Geschichte ist Heilsgeschichte, beginnend mit
der Vertreibung aus dem Paradies und auf das Jüngste Gericht zulaufend,
nach dem das Gottesreich auf Erden existieren wird, als dessen irdische Vorläufer
die christlich-europäischen Königreiche und das Kaiserreich verstanden
werden. Der einzelne Mensch ist Teil dieser göttlichen Ordnung, ihm ist
in ihr ein ganz bestimmter und fester Platz angewiesen. Er fühlt sich nicht
- im Gegensatz zur heutigen Moderne - in erster Linie als Individuum, sondern
als Glied einer Gemeinschaft.
Allgemeine Merkmale mittelalterlicher Literatur - Mittelalterlicher
Literatur geht es im Gegensatz zu unserem Kunstverständnis nicht um Ausdruck
persönlicher Erfahrung oder Beobachtung, sondern um das Allgemeine, Ideelle,
Typische, das gegenüber der unmittelbar erfahrbaren Wirklichkeit als die
eigentliche Wirklichkeit gilt, die letztlich in Gott gründet und auf die
alles bezogen ist.
- Daraus erklärt sich "die Vorliebe für Formeln und Klischees
und tradierte Figuren, erklärt sich die hyperbolische Darstellung von Helden,
Damen und Bösewichtern, die immer die besten, schönsten und schlechtesten
sind". (Peter Wapnewski, Deutsche Literatur des Mittelalters, Göttingen
2/1960, S.48) Daher ist die Dichtung des Mittelalters symbolisch, d.h. im Einzelnen
das Allgemeine darstellend.
- Psychologische Motivierung, die wir i.d.R. von der Literatur erwarten, ist
der mittelalterlichen Literatur fremd. Die Erklärung eines Charakters,
einer Handlung, eines Konfliktes durch die menschliche Seele verweilt innerhalb
des menschlichen Bereiches und widerspricht der Intention, den Menschen als
Verkörperung eines Allgemeinen darzustellen.
- Da, der Festgefügtheit der mittelalterlichen Weltordnung entsprechend,
Themen und Formen der Dichtung traditionell festgelegt sind, kann die Aufgabe
des Dichters nicht darin bestehen, etwas Neues, Originelles zu schaffen. Sein
Wert zeigt sich vielmehr darin, wie er das vorgegebene Repertoire anwendet und
variiert.
- Dichtung ist kein von den übrigen Lebensbereichen (Religion, Wissenschaft,
Politik) abgelöster, autonomer Bereich, sondern mit diesen zutiefst verbunden,
hat dienende Funktion.
Phasen der deutschen Literatur des Mittelalters: 5.-10.
Jahrhundert Frühmittelalter / 10.-13. Jahrhundert Hochmittelalter / 13.-15.
Jahrhundert Spätmittelalter
Das Frühmittelalter, die Zeit der
Merowinger und Karolinger, reicht vom Untergang des römischen Imperiums
über Völkerwanderung und Frankenreich bis zum altdeutschen Kaiserreich.
Es entwickelt sich das Lehnswesen, das im ganzen Mittelalter und darüber
hinaus die hierarchisch gegliederte ständische Gesellschaftsordnung bestimmt.
Das Hochmittelalter umfasst die sächsische, salische und staufische Kaiserzeit.
Neben dem Kaisertum erstarkt die zweite universale Gewalt des Mittelalters,
das Papsttum, durch die cluniazensische Reformbewegung. Der Investiturstreit
erschüttert die Macht des Kaisertums. Die Kreuzzüge, die abendländische
Gegenbewegung gegen den Islam, drängen diesen zeitweise in die Verteidigung
zurück. Im Spätmittelalter erstarkt in den westeuropäischen Ländern
die zentrale Gewalt der Könige; es bilden sich die Grundlagen der späteren
Nationalstaaten. In Deutschland dagegen sinkt die Macht des Königtums,
die der Reichsfürsten wächst; die Kurfürsten gewinnen das Recht
der freien Königswahl; die Städte erlangen große wirtschaftliche
und politische Macht; hier entsteht die Kultur des Bürgertums. Das gesellschaftliche
und kulturelle Leben Europas entwickelt sich aus der bisherigen relativen Einheit
zu großer Vielfalt.
Frühes Mittelalter: - geistliche
Dichtung - Klosterschulen als Kulturträger - Überlieferungen schreibender
Mönche (am bekanntesten: die Fuldaer Mönche) - Verwendung des Parallelismus
als Stilmittel
Formen: - Zaubersprüche (Merseburger Zaubersprüche),
Segen, Rätsel, Gelöbnisse - Götter- und Heldensagen (Hildebrandslied)
- Das St. Trudperter Hohe Lied (für Nonnen geschriebenes Klosterbuch)
Vertreter: - Otfrid von Weißenburg (Evangelienharmonie)
Hohes Mittelalter - höfische Dichtung,
Verweltlichung der Literatur
- Blütezeit mittelhochdeutscher Dichtung unter Friedrich I (Barbarossa)
- Ansehen des Ritters gewachsen, ritterliche Tugenden (Freude, Anstand, Ansehen,
Treue, Verläßlichkeit, Großzügigkeit, Verehrung der Frauen
»hohe minne«)
- Lebensziele Besitz und Ansehen (weltliches Gut), Gnade Gottes (geistliches
Gut)
Formen: - Heldenepos (Nibelungenlied) / - Minnesang (Verehrung
verheirateter Adelsfrauen durch höfische Ritter) / - Spruchdichtung (verwandt
dem Lied, persönliche, religiöse, politische oder moralisch-lehrhafte
Themen)
Vertreter: - Walther von der Vogelweide (Spruchdichtung, Minnesang)
/ - Hartmann von Aue (Gregorius, Der arme Heinrich) / - Wolfram von Eschenbach
(Parzival) / - Gottfried von Straßburg (Tristan und Isolde)
Spätes Mittelalter: - Niedergang
des staufischen Kaisertums, Ende der Ritterzeit / - Verbürgerlichung der
Literatur / - religiöse Besinnung durch Pest (1350) - Nachahmung und Verarbeitung
der Standesdichtung der Ritter Formen: - Schwank - didaktische Dichtung
Vertreter: - Neidhart von Reuental (Tanzlieder) / - Wernher
der Gartenaere (didaktische Mahnung Meier Helmbrecht) / - Mechthild von Magdeburg
(Das fließende Licht der Gottheit)
Phasen - Die Literatur des Mittelalters - wie das Mittelalter
selbst - ist zu verstehen als eine Vereinigung dreier Bereiche: Antike, Christentum,
Germanentum. Die Antike wirkte auch im Mittelalter weiter - ihre Dichtungslehre
(Poetiken), das Vorbild der Schriftsteller (z.B. Vergil, Ovid), ihre Philosophie
(z.B. Aristoteles, Plotin). Im Gegensatz zur späteren Renaissance sah man
die Antike aber nicht als eigenständige Epoche oder gar als Vorbild. Antike
und Christentum hatten sich vielmehr schon im späten Altertum verbunden,
v.a. durch die Bibelübersetzungen (Septuaginta, Vulgata) und die Kirchenväter
(z.B. Augustinus). Das Christentum war die prägende geistige Kraft des
Mittelalters.
Germanische Zeit - Die zur Zeit der
Völkerwanderung in die spätantike Welt eindringenden und sie schließlich
zerstörenden Germanenstämme besaßen eine eigene Literatur, die
zunächst mündlich Verbreitung fand und erst viel später aufgeschrieben
wurde. Das meiste ist verschollen; überliefert sind die folgenden Werke:
- Hildebrandslied: germ. Heldenlied, um 820 aufgezeichnet (ahd)
- Merseburger Zaubersprüche: magische Zauberformeln, im 10.Jh. aufgezeichnet
(ahd)
- Edda; Sammlung germanischer Götter- und Heldenlieder, aufgezeichnet um
1250 in Island (anord)
Geistliche Dichtung des frühen Mittelalters (ahd) 9.-10. Jh.
Nach der Christianisierung der Germanen sahen sich die Geistlichen vor der Aufgabe,
die lateinisch-christliche Literatur den bekehrten Heiden nahe zu bringen. Aus
dieser Zeit stammen Wörterbücher und v.a. Nacherzählungen der
Evangelien. Als wichtige Werke sind zu nennen: - Heliand (um 825) anonymer Verfasser,
Evangelien in Form eines germanischen Heldenepos, für die bekehrten Sachsen
/ - Evangelienharmonie von Otfrid von Weißenburg (um 870), benutzte erstmals
den Endreim statt des germanischen Stabreims. Schreiborte waren die Klöster
(z.B. St. Gallen, Weißenburg, Fulda), Schreiber die Mönche, Auftraggeber
Bischöfe und das Publikum der germanische Adel. Geistliche Dichtung wurde
während des gesamten Mittelalters geschrieben und verbreitet, auch während
der folgenden Perioden, in lateinischer und deutscher Sprache.
Höfische Dichtung des hohen Mittelalters (mhd), 11.-13.Jh.
- Diese Periode ist geprägt von der Kultur des Rittertums. Ritter waren
ehemals Unfreie, die in den Dienst eines Königs bzw. Adligen traten und
als Ministeriale ihrem Herrn als Verwalter oder berittener Krieger dienten.
Diese "Aufsteiger" übernahmen die Lebensformen des Adels und
wandelten sie zu einem oft starren Formenkult um. Äußerlich zeigte
sich dies in Festen und Turnieren, in Symbolen (Wappen) und Kleidung.
Die ritterlichen Ideale lassen sich in drei "Diensten" zusammenfassen:
treuer Dienst für den Herrn, Dienst für Kirche und Christenheit (Kreuzzug,
Hilfe für Arme und Schwache, Friedfertigkeit untereinander), Frauendienst.
Als ritterliche Tugenden galten u.a.: hoher muot: seelisches Hochgestimmtsein
/ zuht: Anstand, Wohlerzogenheit / mâze: Mäßigung der Leidenschaften
/ ere: Ansehen, Geltung, Würde / triuwe: Treue, Aufrichtigkeit / state:
Beständigkeit, Verlässlichkeit / milte: Freigebigkeit.
Der Dichtung kam in diesem Zusammenhang die Funktion zu, das ritterliche Ideal
darzustellen. Träger der Dichtung war der meist ritterliche Sänger,
der seine Werke auf den Festen vortrug und dadurch seinen Lebensunterhalt verdiente.
Es gab zwei Hauptgattungen ritterlicher Dichtung.
HÖFISCHES RITTEREPOS (RITTERROMAN) - In den Verserzählungen
wird der Lebensweg eines Ritters geschildert, der eine Reihe von Abenteuern
bestehen, viele Irrwege gehen muss, bis er sich zum wahren Ritter geläutert
hat und der höchsten Weihe des Rittertums teilhaftig werden kann. Diese
besteht i.d.R. in der Aufnahme an den Hof König Arthus'. An seiner Tafelrunde
sind viele berühmte Ritter versammelt (z.B. Erec, Iwein, Parzival, Lancelot).
Die Figur des idealen Königs stammt aus einem bretonisch-irischen Sagen-
und Märchenkreis. Unmittelbares Vorbild der deutschsprachigen höfischen
Ritterromane waren die Werke des Franzosen Chrestien de Troyes.
Wichtige Autoren und Werke: - Hartmann
von Aue, Erec (1180/85) / - Wolfram von Eschenbach, Parzival (um 1200/1210)
/ - Gottfried von Straßburg, Tristan und Isolde (um 1210) / - Daneben
stellt das Nibelungenlied (um 1200) eine Sonderform dar, da es germanische Heldensagen
im ritterlich-höfischen Gewand präsentiert.
MINNESANG - Die Minnedichtung entstand in der Provence. Sie
wurde an den Adelshöfen von ritterlichen Sängern, den Trobadors, vorgetragen
und verbreitet und ist über Nordfrankreich in den deutschen Sprachraum
eingedrungen. Die Trobadors vereinigten in ihren Liedern zwei Auffassungen von
Liebe: eine christliche, die in der Liebe eine ethische, religiöse Macht
sah, und eine antike, die das Erotisch-Sexuelle betonte. Die antike Tradition
wurde von den so genannten Vaganten vertreten, jungen Geistlichen, die studiert,
aber keine Aussicht auf ein geistliches Amt hatten und deshalb als von Hof zu
Hof wandernde (vagare=umherschweifen) Dichter ihr Dasein fristeten (Sammlung
von Vagantenliedern: Carmina Burana).
Die deutsche Minnedichtung vergeistigte die Trobadorlyrik zur "hohen Minne".
Minnelyrik variiert einen engen Kreis von Motiven und Formen. Die Gedichte wurden
zur Laute gesungen. Dies erforderte eine strenge Gliederung, die Strophenform
des "Kanzone" (=Lied): Sie teilt sich in den Aufgesang und den Abgesang.
Der Aufgesang ist noch einmal in zwei Teile (Stollen) gegliedert; die Teile
sind am Reimschema erkennbar.
Thematisch enthalten Minnelieder die Liebeserklärung eines Ritters an eine
(verheiratete) Adlige, den Preis ihrer inneren und äußeren Vorzüge,
die Hoffnung auf Erhörung, die Klage über die Unerfüllbarkeit
dieser Hoffnung und - damit zusammenhängend - über den Konflikt zwischen
geistiger Liebe und Sinnlichkeit. Das Verhältnis des Ritters zu seiner
Herrin ist dem Verhältnis zwischen Lehensherr und Lehensmann nachgebildet.
Minnegesang war Teil des Minnedienstes. Die Gedichte wurden bei Hoffesten vor
allen Anwesenden vom Verfasser selbst vorgesungen. Das Publikum beurteilte die
Lieder, versuchte zu erraten, wer die anonyme Angebetete sei.
Neben der geselligen Unterhaltung waren Minnedichtung und Minnedienst Teil des
ritterlichen Tugend- und Erziehungssystems. Selbstzucht und Selbstüberwindung
(heute wurde man sagen "Triebverzicht") sollten einer Kriegerkaste
vermittelt werden. In der Minne (von lat. memini=ich erinnere, dagegen Liebe
von idg. lubh=begehren) sah man den Inbegriff des Ritterideals.
Bekannte deutsche Minnedichter waren: - Heinrich von Veldeke,
Friedrich von Hausen, Heinrich von Morungen, Hartmann von Aue, Reinmar von Hagenau.
/ - Walther von der Vogelweide (1168-1228) knüpfte wieder an die Vagantendichtung
an und wandte sich so gegen das allzu Erstarrte, Wirklichkeitsferne der hohen
Minne. Er schuf die so genannten "Mädchenlieder" (auch "niedere
Minne"), die sich nicht an eine adlige Dame richteten und die Erotik in
den Vordergrund stellten.
Dichtung des späten Mittelalters (nhd) 13.-15.Jh. Das
ausgehende Mittelalter erlebte den Zerfall des Ritterstandes und das Erstarken
des Bürgertums. Neue literarische Formen entstehen: Volksbuch, Volkslied,
Volksballade (Till Eulenspiegel), Pfaffen- und Standessatire, Meistersang.