12. Die Epoche des Naturalismus
(1880-1900)
Das Programm: - möglichst getreue Wiedergabe der Natur,
geprägt durch exakte Beschreibungen
- Die Naturwissenschaften als Grundlage aufgrund naturwissenschaftlicher Erfolge,
Verdrängung des Metaphysischen (»Kunst = Natur - x«, Arno Holz)
- Hang zum »Modernen« (beschrieben in den Kritischen Waffengängen
(Hart))
- Gesellschaftskritik, Aufruf zu Humanität und Toleranz, Interesse am Sozialismus,
aber mehr aus Solidarität mit dem Proletariat und den verbotenen Parteien
Grundideen Der Naturalismus ist dem Realismus verwandt, beide
haben dieselben geistigen und sozialen Wurzeln. Die Naturalisten versuchten
aber, die Grundideen des Realismus konsequent zu Ende zu denken, sie empfanden
sich als radikaler. Diejenige Wissenschaft, von der man im 19. Jh. annahm, dass
sie die Realität einzig richtig erfasse, war die Naturwissenschaft. Mithin
musste sie nach Meinung der Naturalisten auch zur Grundlage der Kunst werden.
Der Literaturtheoretiker Wilhelm Bölsche drückte es in seinem Buch,
das den bezeichnenden Titel "Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der
Poesie" (1887) trug, folgendermaßen aus: "Der Dichter ... ist
in seiner Weise ein Experimentator, wie der Chemiker, der allerlei Stoffe mischt,
in gewisse Temperaturgrade bringt und den Erfolg beobachtet. Natürlich:
der Dichter hat Menschen vor sich, keine Chemikalien. Aber... auch diese Menschen
fallen ins Gebiet der Naturwissenschaften. Ihre Leidenschaften, ihr Reagieren
gegen äußere Umstände, das ganze Spiel ihrer Gedanken folgen
gewissen Gesetzen, die der Forscher ergründet hat und die der Dichter bei
dem freien Experimente so gut zu beachten hat, wie der Chemiker, wenn er etwas
Vernünftiges und keinen wertlosen Mischmasch herstellen will, die Kräfte
und Wirkungen vorher berechnen muß, ehe er ans Werk geht und Stoffe kombiniert."
Ziel sei es, "zu einer wahren mathematischen Durchdringung der ganzen Handlungsweise
eines Menschen zu gelangen und Gestalten vor unserm Auge aufwachsen zu lassen,
die logisch sind, wie die Natur."
Der wichtigste Theoretiker des Naturalismus, Arno Holz, fasste das Problem in
eine Formel (!): "Kunst=Natur-x". Das "x" sei das Material
der Kunst, ihre "Reproduktionsbedingungen", im Falle der Dichtung
also die Sprache und die dichterischen Formen. Das "x" müsse
möglichst nach Null tendieren, die Literatur also die Wirklichkeit möglichst
exakt abbilden. Ein weiterer Verfechter des Naturalismus, Michael Georg Conrad,
forderte 1885 von der Literatur: "Treue Wiedergabe des Lebens unter strengem
Ausschluss des romantischen, die Wahrscheinlichkeit der Erscheinung beeinträchtigenden
Elementes; die Komposition hat ihren Schwerpunkt nicht mehr in der Erfindung
und Führung einer mehr oder weniger spannenden, den blöden Leser in
Atem haltenden Intrigue (Fabel), sondern in der Auswahl und logischen Folge
der dem wirklichen Leben entnommenen Szenen..."
Als "Natur", "Wahrheit", "Leben" bezeichneten
die Naturalisten die Realität, so wie sie sie sahen. Sie folgten in ihrer
Sicht den Theorien des französischen Historikers und Philosophen Hippolyte
Taine (1828-1893). Er verstand den Menschen als gesetzmäßig bestimmt,
als 'determiniert', von Vererbung, Milieu und historischer Situation. Die Naturalisten
interessierten sich demnach für diejenigen Bereiche, in denen die Determiniertheit
ihrer Meinung nach am krassesten zum Ausdruck kam und die vom bürgerlichen
Bewusstsein damals in der Regel verdrängt wurden: die soziale Frage, die
Exzesse der Großstadt - Alkoholismus, Geschlechtskrankheit, Kriminalität-,
die Zerrüttung von Familie und Ehe, sei es durch die Verlogenheit der Reichen,
sei es durch die Not der Armen.
Die Naturalisten protestierten dabei gegen soziale Missstände, gegen den
deutschen Obrigkeitsstaat, waren aber prinzipiell von pessimistischer Grundhaltung,
zeigten keine Lösung, vermittelten keine Hoffnung. Sie verstanden sich
trotz aller Nähe zu sozialen Themen, trotz aller Sympathie für die
Sozialdemokratie nicht als politische Bewegung mit Programm, konkreten Zielen
und mit Strategien. Der Naturalismus war in erster Linie eine bürgerlich-intellektuelle,
vorwiegend literarische Protestbewegung.
Historischer Hintergrund: - große Fortschritte in der
Wissenschaft, u.a. Erfindung der Schallplatte (1887), der Dampfturbine (1884)
und des Dieselmotors (1893)
- Bismarcks Sozialistengesetz (1878) und Sozialgesetzgebung (1883-89)
Literarische Formen: - experimentelle Prosa, geprägt durch
Dialekt und Alltagssprache, exakte Erfassung von Mienenspiel und feinsten Bewegungen,
Zeitdeckung, Sekundenstil
- ausführliche Regieanweisungen über Pausen, Sprechtempo, Lautstärke
beim Drama
- Revolution der Lyrik (Holz), äußerlich Zentrierung der Verse auf
eine gedachte Mittelachse, mitunter satirisch, grotesk
Literarische Feinde und Vorbilder Die Naturalisten verurteilten
aufs Schärfste den trivialen Zeitgeschmack, der sich an französischen
Komödiendichtern (Scribe, Dumas) und an den Nachahmern der deutschen Klassik
und Romantik (Heyse, Geibel) orientierte. Sie knüpften bewusst an den Sturm
und Drang , an Dichter wie Heine und Büchner an. Als "Idole"
galten Emile Zola (1840-1902), der in Frankreich den naturalistischen Roman
begründet und als Erster den Dichter als Experimentator bezeichnet hatte,
ferner der Norweger Hendrik Ibsen (1828-1906), der in seinen Dramen den determinierten
Menschen ("Gespenster"), aber auch den gegen sein Milieu protestierenden
("Nora") darstellte.
Formen:
- Die Ideen des Naturalismus wurden hauptsächlich in Zeitschriften verbreitet.
In Berlin gaben die Brüder Heinrich und Julius Hart die "Kritischen
Waffengänge" (1882-84) heraus, in München, dem zweiten Brennpunkt
des Naturalismus, publizierte Michael Georg Conrad die Zeitschrift "Die
Gesellschaft" (1885-1902).
- Die bedeutendsten Leistungen hat das Drama des Naturalismus aufzuweisen. Mit
ihren Theaterstücken und eigens gegründeten Theatern (z.B. 1890 Freie
Bühne in Berlin) erzielten die naturalistischen Dichter schon zu ihren
Lebzeiten eine große Wirkung. Typische Merkmale des naturalistischen Dramas
sind:
- Beibehaltung der traditionellen Form (etwa: Tragödie, Komödie),
andererseits Tendenzen zur Episierung ("Die Weber");
- Aufnahme neuer, bisher tabuisierter Themen (s.o.);
- entsprechend der Thematik vieler Stücke: Bevorzugung des Dialekts, entsprechend
der Forderung nach Wirklichkeitsnähe: Wegfall des Monologs, entsprechend
der Milieutheorie: ausführliche Regieanweisungen;
- häufiges Vorkommen analytischer Dramen, da ein in der Vergangenheit angelegtes
Verhängnis (z.B. infolge Vererbung) sich im Verlauf des Dramas entfaltet
(zum Beweis der Determiniertheit).
- Weniger bedeutsam sind der naturalistische Roman und die Lyrik. Der von Arno
Holz und Johannes Schlaf in ihrer Prosaskizze "Papa Hamlet" kreierte
"Sekundenstil", die minutiöse Detailschilderung sozialen Elends,
erwies sich als Sackgasse, ebenso die neue, der Prosa angenäherte Lyrik
des Arno Holz (Phantasus 1898).
Vertreter
- Arno Holz und Johannes Schlaf (Erzählskizzen Der erste Schultag, Ein
Tod und der den Naturalismus einleitende Papa Hamlet, Dramolett über eine
Berliner Kleinbürgerfamilie Die Familie Selicke, der Revolution der Lyrik
entsprechende Gedichtsammlung Phantasus) Epik: Bahnwärter Thiel / ("Novellistische
Studie", 1888)
- Gerhart Hauptmann (bedeutendster Vertreter des Naturalismus, novellistische
Studie Bahnwärter Thiel, Dramen Vor Sonnenaufgang (Industrialisierung),
Einsame Menschen, Die Weber (Weberaufstand 1844), Der Biberpelz (kleinbürgerliche
Diebin), Die Ratten, Vor Sonnenuntergang, Traum- und Märchendichtungen
Hanneles Himmelfahrt mit romantischen Zügen, Die versunkene Glocke, die
neuklassische Atriden-Tetralogie, Autobiographie Griechischer Frühling)
- Max Halbe, Heinrich und Julius Hart (Kritische Waffengänge), Michael
Georg Conrad (Zeitschrift Die Gesellschaft)