Ein dichter Herbstnebel verhüllte noch in der Frühe die weiten Räume
des fürstlichen Schloßhofes, als man schon mehr oder weniger durch
den sich lichtenden Schleier die ganze Jägerei zu Pferde und zu Fuß
durcheinander bewegt sah. Die eiligen Beschäftigungen der Nächsten
ließen sich erkennen: man verlängerte, man verkürzte die Steigbügel,
man reichte sich Büchse und Patrontäschchen, man schob die Dachsranzen
zurecht, indes die Hunde ungeduldig am Riemen den Zurückhaltenden mit fortzuschleppen
drohten. Auch hie und da gebärdete ein Pferd sich mutiger, von feuriger
Natur getrieben oder von dem Sporn des Reiters angeregt, der selbst hier in
der Halbhelle eine gewisse Eitelkeit, sich zu zeigen, nicht verleugnen konnte.
Alle jedoch warteten auf den Fürsten, der, von seiner jungen Gemahlin Abschied
nehmend, allzulange zauderte.
Erst vor kurzer Zeit zusammen getraut, empfanden sie schon das Glück übereinstimmender
Gemüter; beide waren von tätig lebhaftem Charakter, eines nahm gern
an des andern Neigungen und Bestrebungen Anteil. Des Fürsten Vater hatte
noch den Zeitpunkt erlebt und genutzt, wo es deutlich wurde, daß alle
Staatsglieder in gleicher Betriebsamkeit ihre Tage zubringen, in gleichem Wirken
und Schaffen jeder nach seiner Art erst gewinnen und dann genießen sollte.
Wie sehr dieses gelungen war, ließ sich in diesen Tagen gewahr werden,
als eben der Hauptmarkt sich versammelte, den man gar wohl eine Masse nennen
konnte. Der Fürst hatte seine Gemahlin gestern durch das Gewimmel der aufgehäuften
Waren zu Pferde geführt und sie bemerken lassen, wie gerade hier das Gebirgsland
mit dem flachen Lande einen glücklichen Umtausch treffe; er wußte
sie an Ort und Stelle auf die Betriebsamkeit seines Länderkreises aufmerksam
zu machen.
Wenn sich nun der Fürst fast ausschließlich in diesen Tagen mit den
Seinigen über diese zudringenden Gegenstände unterhielt, auch besonders
mit dem Finanzminister anhaltend arbeitete, so behielt doch auch der Landjägermeister
sein Recht, auf dessen Vorstellung es unmöglich war, der Versuchung zu
widerstehen, an diesen günstigen Herbsttagen eine schon verschobene Jagd
zu unternehmen, sich selbst und den vielen angekommenen Fremden ein eignes und
seltnes Fest zu eröffnen.
Die Fürstin blieb ungern zurück; man hatte sich vorgenommen, weit
in das Gebirg hineinzudringen, um die friedlichen Bewohner der dortigen Wälder
durch einen unerwarteten Kriegszug zu beunruhigen. Scheidend versäumte
der Gemahl nicht, einen Spazierritt vorzuschlagen, den sie im Geleit Friedrichs,
des fürstlichen Oheims, unternehmen sollte.
"Auch lasse ich", sagte er, "dir unsern Honorio als Stall- und
Hofjunker, der für alles sorgen wird".
Und im Gefolg dieser Worte gab er im Hinabsteigen einem wohlgebildeten jungen
Mann die nötigen Aufträge, verschwand sodann bald mit Gästen
und Gefolge. Die Fürstin, die ihrem Gemahl noch in den Schloßhof
hinab mit dem Schnupftuch nachgewinkt hatte, begab sich in die hintern Zimmer,
welche nach dem Gebirg eine freie Aussicht ließen, die um desto schöner
war, als das Schloß selbst von dem Flusse herauf in einiger Höhe
stand und so vor- als hinterwärts mannigfaltige bedeutende Ansichten gewährte.
Sie fand das treffliche Teleskop noch in der Stellung, wo man es gestern abend
gelassen hatte, als man, über Busch, Berg und Waldgipfel die hohen Ruinen
der uralten Stammburg betrachtend, sich unterhielt, die in der Abendbeleuchtung
merkwürdig hervortraten, indem alsdann die größten Licht- und
Schattenmassen den deutlichsten Begriff von einem so ansehnlichen Denkmal alter
Zeit verleihen konnten. Auch zeigte sich heute früh durch die annähernden
Gläser recht auffallend die herbstliche Färbung jener mannigfaltigen
Baumarten, die zwischen dem Gemäuer ungehindert und ungestört durch
lange Jahre emporstrebten.
Die schöne Dame richtete jedoch das Fernrohr etwas tiefer nach einer öden,
steinigen Fläche, über welche der Jagdzug weggehen mußte. Sie
erharrte den Augenblick mit Geduld und betrog sich nicht, denn bei der Klarheit
und Vergrößerungsfähigkeit des Instruments erkannten ihre glänzenden
Augen deutlich den Fürsten und den Oberstallmeister; ja sie enthielt sich
nicht, abermals mit dem Schnupftuche zu winken, als sie ein augenblickliches
Stillhalten und Rückblicken mehr vermutete als gewahr ward.
Fürst Oheim, Friedrich mit Namen, trat sodann, angemeldet, mit seinem Zeichner
herein, der ein großes Portefeuille unter dem Arm trug.
"Liebe Cousine", sagte der alte, rüstige Herr, "hier legen
wir die Ansichten der Stammburg vor, gezeichnet, um von verschiedenen Seiten
anschaulich zu machen, wie der mächtige Trutz- und Schutzbau von alten
Zeiten her dem Jahr und seiner Witterung sich entgegenstemmte und wie doch hie
und da sein Gemäuer weichen, da und dort in wüste Ruinen zusammenstürzen
mußte. Nun haben wir manches getan, um diese Wildnis zugänglicher
zu machen, denn mehr bedarf es nicht, um jeden Wanderer, jeden Besuchenden in
Erstaunen zu setzen, zu entzücken".
Indem nun der Fürst die einzelnen Blätter deutete, sprach er weiter:
"Hier, wo man, den Hohlweg durch die äußern Ringmauern heraufkommend,
vor die eigentliche Burg gelangt, steigt uns ein Felsen entgegen von den festesten
des ganzen Gebirgs; hierauf nun steht gemauert ein Turm, doch niemand wüßte
zu sagen, wo die Natur aufhört, Kunst und Handwerk aber anfangen. Ferner
sieht man seitwärts Mauern angeschlossen und Zwinger terrassenmäßig
herab sich erstreckend. Doch ich sage nicht recht, denn es ist eigentlich ein
Wald, der diesen uralten Gipfel umgibt. Seit hundertundfunfzig Jahren hat keine
Axt hier geklungen, und überall sind die mächtigsten Stämme emporgewachsen.
Wo Ihr Euch an den Mauern andrängt, stellt sich der glatte Ahorn, die rauhe
Eiche, die schlanke Fichte mit Schaft und Wurzeln entgegen; um diese müssen
wir uns herumschlängeln und unsere Fußpfade verständig führen.
Seht nur, wie trefflich unser Meister dies Charakteristische auf dem Papier
ausgedrückt hat, wie kenntlich die verschiedenen Stamm- und Wurzelarten
zwischen das Mauerwerk verflochten und die mächtigen Äste durch die
Lücken durchgeschlungen sind! Es ist eine Wildnis wie keine, ein zufällig
einziges Lokal, wo die alten Spuren längst verschwundener Menschenkraft
mit der ewig lebenden und fortwirkenden Natur sich in dem ernstesten Streit
erblicken lassen".
Ein anderes Blatt aber vorlegend, fuhr er fort: "Was sagt Ihr nun zum Schloßhofe,
der, durch das Zusammenstürzen des alten Torturmes unzugänglich, seit
undenklichen Jahren von niemand betreten ward? Wir suchten ihm von der Seite
beizukommen, haben Mauern durchbrochen, Gewölbe gesprengt und so einen
bequemen, aber geheimen Weg bereitet. Inwendig bedurft es keines Aufräumens,
hier findet sich ein flacher Felsgipfel von der Natur geplättet, aber doch
haben mächtige Bäume hie und da zu wurzeln Glück und Gelegenheit
gefunden; sie sind sachte, aber entschieden aufgewachsen, nun erstrecken sie
ihre Äste bis in die Galerien hinein, auf denen der Ritter sonst auf und
ab schritt, ja durch Türen durch und Fenster in die gewölbten Säle,
aus denen wir sie nicht vertreiben wollen; sie sind eben Herr geworden und mögens
bleiben. Tiefe Blätterschichten wegräumend, haben wir den merkwürdigsten
Platz geebnet gefunden, dessengleichen in der Welt vielleicht nicht wieder zu
sehen ist.
"Nach allem diesem aber ist es immer noch bemerkenswert und an Ort und
Stelle zu beschauen, daß auf den Stufen, die in den Hauptturm hinaufführen,
ein Ahorn Wurzel geschlagen und sich zu einem so tüchtigen Baume gebildet
hat, daß man nur mit Not daran vorbeidringen kann, um die Zinne, der unbegrenzten
Aussicht wegen, zu besteigen. Aber auch hier verweilt man bequem im Schatten,
denn dieser Baum ist es, der sich über das Ganze wunderbar hoch in die
Luft hebt.
"Danken wir also dem wackern Künstler, der uns so löblich in
verschiedenen Bildern von allem überzeugt, als wenn wir gegenwärtig
wären; er hat die schönsten Stunden des Tages und der Jahrszeit dazu
angewendet und sich wochenlang um diese Gegenstände herumbewegt. In dieser
Ecke ist für ihn und den Wächter, den wir ihm zugegeben, eine kleine,
angenehme Wohnung eingerichtet. Sie sollten nicht glauben, meine Beste, welch
eine schöne Aus- und Ansicht er ins Land, in Hof und Gemäuer sich
dort bereitet hat! Nun aber, da alles so rein und charakteristisch umrissen
ist, wird er es hier unten mit Bequemlichkeit ausführen. Wir wollen mit
diesen Bildern unsern Gartensaal zieren, und niemand soll über unsere regelmäßigen
Parterre, Lauben und schattigen Gänge seine Augen spielen lassen, der nicht
wünschte, dort oben in dem wirklichen Anschauen des Alten und Neuen, des
Starren, Unnachgiebigen, Unzerstörlichen und des Frischen, Schmiegsamen,
Unwiderstehlichen seine Betrachtungen anzustellen".
Honorio trat ein und meldete, die Pferde seien vorgeführt; da sagte die
Fürstin, zum Oheim gewendet: "Reiten wir hinauf, und lassen Sie mich
in der Wirklichkeit sehen, was Sie mir hier im Bilde zeigten! Seit ich hier
bin, hör ich von diesem Unternehmen und werde jetzt erst recht verlangend,
mit Augen zu sehen, was mir in der Erzählung unmöglich schien und
in der Nachbildung unwahrscheinlich bleibt".
"Noch nicht, meine Liebe", versetzte der Fürst; "was Sie
hier sahen, ist, was es werden kann und wird; jetzt stockt noch manches, die
Kunst muß erst vollenden, wenn sie sich vor der Natur nicht schämen
soll".
"Und so reiten wir wenigstens hinaufwärts, und wär es nur bis
an den Fuß; ich habe große Lust, mich heute weit in der Welt umzusehen".
"Ganz nach Ihrem Willen", versetzte der Fürst.
"Lassen Sie uns aber durch die Stadt reiten", fuhr die Dame fort,
"über den großen Marktplatz, wo eine zahllose Menge von Buden
die Gestalt einer kleinen Stadt, eines Feldlagers angenommen hat. Es ist, als
wären die Bedürfnisse und Beschäftigungen sämtlicher Familien
des Landes umher nach außen gekehrt, in diesem Mittelpunkt versammelt,
an das Tageslicht gebracht worden, denn hier sieht der aufmerksame Beobachter
alles, was der Mensch leistet und bedarf; man bildet sich einen Augenblick ein,
es sei kein Geld nötig, jedes Geschäft könne hier durch Tausch
abgetan werden, und so ist auch im Grunde. Seitdem der Fürst gestern mir
Anlaß zu diesem Übersichten gegeben, ist es mir gar angenehm zu denken,
wie hier, wo Gebirg und flaches Land aneinandergrenzen, beide so deutlich aussprechen,
was sie brauchen und was sie wünschen. Wie nun der Hochländer das
Holz seiner Wälder in hundert Formen umzubilden weiß, das Eisen zu
einem jeden Gebrauch zu vermannigfaltigen, so kommen jene drüben mit den
vielfältigsten Waren ihm entgegen, an denen man den Stoff kaum unterscheiden
und den Zweck oft nicht erkennen mag".
"Ich weiß", versetzte der Fürst, "daß mein Neffe
hierauf die größte Aufmerksamkeit wendet, denn gerade zu dieser Jahrszeit
kommt es hauptsächlich darauf an, daß man mehr empfange als gebe;
dies zu bewirken, ist am Ende die Summe des ganzen Staatshaushaltes so wie der
kleinsten häuslichen Wirtschaft. Verzeihen Sie aber, meine Beste, ich reite
niemals gern durch den Markt und Messe; bei jedem Schritt ist man gehindert
und aufgehalten, und dann flammt mir das ungeheure Unglück wieder in die
Einbildungskraft, das sich mir gleichsam in die Augen eingebrannt, als ich eine
solche Güter- und Warenbreite in Feuer aufgehen sah. Ich hatte mich kaum
-".
"Lassen Sie uns die schönen Stunden nicht versäumen!" fiel
ihm die Fürstin ein, da der würdige Mann sie schon einigemal mit ausführlicher
Beschreibung jenes Unheils geängstigt hatte, wie er sich nämlich,
auf einer großen Reise begriffen, abends im besten Wirtshause auf dem
Markte, der eben von einer Hauptmesse wimmelte, höchst ermüdet zu
Bette gelegt und nachts durch Geschrei und Flammen, die sich gegen seine Wohnung
wälzten, gräßlich aufgeweckt worden.
Die Fürstin eilte, das Lieblingspferd zu besteigen, und führte, statt
zum Hintertore bergauf, zum Vordertore bergunter ihren widerwillig bereiten
Begleiter; denn wer wäre nicht gern an ihrer Seite geritten, wer wäre
ihr nicht gern gefolgt! Und so war auch Honorio von der sonst so ersehnten Jagd
willig zurückgeblieben, um ihr ausschließlich dienstbar zu sein.
Wie vorauszusehen, durften sie auf dem Markte nur Schritt vor Schritt reiten;
aber die schöne Liebenswürdige erheiterte jeden Aufenthalt durch eine
geistreiche Bemerkung.
"Ich wiederhole", sagte sie, "meine gestrige Lektion, da denn
doch die Notwendigkeit unsere Geduld prüfen will".
Und wirklich drängte sich die ganze Menschenmasse dergestalt an die Reitenden
heran, daß sie ihren Weg nur langsam fortsetzen konnten. Das Volk schaute
mit Freuden die junge Dame, und auf so viel lächelnden Gesichtern zeigte
sich das entschiedene Behagen, zu sehen, daß die erste Frau im Lande auch
die schönste und anmutigste sei.
Untereinander gemischt standen Bergbewohner, die zwischen Felsen, Fichten und
Föhren ihre stillen Wohnsitze hegten, Flachländer von Hügeln,
Auen und Wiesen her, Gewerbsleute der kleinen Städte, und was sich alles
versammelt hatte. Nach einem ruhigen Überblick bemerkte die Fürstin
ihrem Begleiter, wie alle diese, woher sie auch seien, mehr Stoff als nötig
zu ihren Kleidern genommen, mehr Tuch und Leinwand, mehr Band zum Besatz.
"Ist es doch, als ob die Weiber nicht brauschig und die Männer nicht
pausig genug sich gefallen könnten!"
"Wir wollen ihnen das ja lassen", versetzte der Oheim; "wo auch
der Mensch seinen Überfluß hinwendet, ihm ist wohl dabei, am wohlsten,
wenn er sich damit schmückt und aufputzt".
Die schöne Dame winkte Beifall.
So waren sie nach und nach auf einen freiern Platz gelangt, der zur Vorstadt
hinführte, wo am Ende vieler kleiner Buden und Kramstände ein größeres
Brettergebäude in die Augen fiel, das sie kaum erblickten, als ein ohrzerreißendes
Gebrülle ihnen entgegentönte. Die Fütterungsstunde der dort zur
Schau stehenden wilden Tiere schien herangekommen; der Löwe ließ
seine Wald- und Wüstenstimme aufs kräftigste hören, die Pferde
schauderten, und man konnte der Bemerkung nicht entgehen, wie in dem friedlichen
Wesen und Wirken der gebildeten Welt der König der Einöde sich so
furchtbar verkündige. Zur Bude näher gelangt, durften sie die bunten,
kolossalen Gemälde nicht übersehen, die mit heftigen Farben und kräftigen
Bildern jene fremden Tiere darstellten, welche der friedliche Staatsbürger
zu schauen unüberwindliche Lust empfinden sollte. Der grimmig ungeheure
Tiger sprang auf einen Mohren los, im Begriff ihn zu zerreißen, ein Löwe
stand ernsthaft majestätisch, als wenn er keine Beute seiner würdig
vor sich sähe; andere wunderliche, bunte Geschöpfe verdienten neben
diesen mächtigen weniger Aufmerksamkeit.
"Wir wollen", sagte die Fürstin, "bei unserer Rückkehr
absteigen und die seltenen Gäste näher betrachten!"
"Es ist wunderbar", versetzte der Fürst, "daß der
Mensch durch Schreckliches immer aufgeregt sein will. Drinnen liegt der Tiger
ganz ruhig in seinem Kerker, und hier muß er grimmig auf einen Mohren
losfahren, damit man glaube, dergleichen inwendig ebenfalls zu sehen; es ist
an Mord und Totschlag noch nicht genug, an Brand und Untergang: die Bänkelsänger
müssen es an jeder Ecke wiederholen. Die guten Menschen wollen eingeschüchtert
sein, um hinterdrein erst recht zu fühlen, wie schön und löblich
es sei, frei Atem zu holen".
Was denn aber auch Bängliches von solchen Schreckensbildern mochte übriggeblieben
sein, alles und jedes war sogleich ausgelöscht, als man, zum Tore hinausgelangt,
in die heiterste Gegend eintrat. Der Weg führte zuerst am Flusse hinan,
an einem zwar noch schmalen, nur leichte Kähne tragenden Wasser, das aber
nach und nach als größter Strom seinen Namen behalten und ferne Länder
beleben sollte. Dann ging es weiter durch wohlversorgte Frucht- und Lustgärten
sachte hinaufwärts, und man sah sich nach und nach in der aufgetanen, wohlbewohnten
Gegend um, bis erst ein Busch, sodann ein Wäldchen die Gesellschaft aufnahm
und die anmutigsten Örtlichkeiten ihren Blick begrenzten und erquickten.
Ein aufwärts leitendes Wiesental, erst vor kurzem zum zweiten Male gemäht,
sammetähnlich anzusehen, von einer oberwärts lebhaft auf einmal reich
entspringenden Quelle gewässert, empfing sie freundlich, und so zogen sie
einem höheren, freieren Standpunkt entgegen, den sie, aus dem Walde sich
bewegend, nach einem lebhaften Stieg erreichten, alsdann aber vor sich noch
in bedeutender Entfernung über neuen Baumgruppen das alte Schloß,
den Zielpunkt ihrer Wallfahrt, als Fels- und Waldgipfel hervorragen sahen. Rückwärts
aber - denn niemals gelangte man hierher, ohne sich umzukehren - erblickten
sie durch zufällige Lücken der hohen Bäume das fürstliche
Schloß links, von der Morgensonne beleuchtet, den wohlgebauten höhern
Teil der Stadt, von leichten Rauchwolken gedämpft, und so fort nach der
Rechten zu die untere Stadt, den Fluß in einigen Krümmungen mit seinen
Wiesen und Mühlen, gegenüber eine weite nahrhafte Gegend.
Nachdem sie sich an dem Anblick ersättigt oder vielmehr, wie es uns bei
dem Umblick auf so hoher Stelle zu geschehen pflegt, erst recht verlangend geworden
nach einer weitern, weniger begrenzten Aussicht, ritten sie eine steinige, breite
Fläche hinan, wo ihnen die mächtige Ruine als ein grüngekrönter
Gipfel entgegenstand, wenig alte Bäume tief unten um seinen Fuß;
sie ritten hindurch, und so fanden sie sich gerade vor der steilsten, unzugänglichsten
Seite. Mächtige Felsen standen von Urzeiten her, jedem Wechsel unangetastet,
fest, wohlgegründet voran, und so türmte sichs aufwärts; das
dazwischen Herabgestürzte lag in mächtigen Platten und Trümmern
unregelmäßig übereinander und schien dem Kühnsten jeden
Angriff zu verbieten. Aber das Steile, Jähe scheint der Jugend zuzusagen;
dies zu unternehmen, zu erstürmen, zu erobern, ist jungen Gliedern ein
Genuß. Die Fürstin bezeigte Neigung zu einem Versuch, Honorio war
bei der Hand, der fürstliche Oheim, wenn schon bequemer, ließ sichs
gefallen und wollte sich doch auch nicht unkräftig zeigen; die Pferde sollten
am Fuß unter den Bäumen halten, und man wollte bis zu einem gewissen
Punkte gelangen, wo ein vorstehender mächtiger Fels einen Flächenraum
darbot, von wo man eine Aussicht hatte, die zwar schon in den Blick des Vogels
überging, aber sich doch noch malerisch genug hintereinander schob.
Die Sonne, beinahe auf ihrer höchsten Stelle, verlieh die klarste Beleuchtung;
das fürstliche Schloß mit seinen Teilen, Hauptgebäuden, Flügeln,
Kuppeln und Türmen erschien gar stattlich, die obere Stadt in ihrer völligen
Ausdehnung; auch in die untere konnte man bequem hineinsehen, ja durch das Fernrohr
auf dem Markte sogar die Buden unterscheiden. Honorio war immer gewohnt, ein
so förderliches Werkzeug überzuschnallen; man schaute den Fluß
hinauf und hinab, diesseits das bergartig terrassenweis unterbrochene, jenseits
das aufgleitende flache und in mäßigen Hügeln abwechselnde fruchtbare
Land, Ortschaften unzählige; denn es war längst herkömmlich,
über die Zahl zu streiten, wieviel man deren von hier oben gewahr werde.
Über die große Weite lag eine heitere Stille, wie es am Mittag zu
sein pflegt, wo die Alten sagten, Pan schlafe und alle Natur halte den Atem
an, um ihn nicht aufzuwecken.
"Es ist nicht das erstemal", sagte die Fürstin, "daß
ich auf so hoher, weitumschauender Stelle die Betrachtung machte, wie doch die
klare Natur so reinlich und friedlich aussieht und den Eindruck verleiht, als
wenn gar nichts Widerwärtiges in der Welt sein könne, und wenn man
denn wieder in die Menschenwohnung zurückkehrt, sie sei hoch oder niedrig,
weit oder eng, so gibts immer etwas zu kämpfen, zu streiten, zu schlichten
und zurechtzulegen".
Honorio, der indessen durch das Sehrohr nach der Stadt geschaut hatte, rief:
"Seht hin! Seht hin! Auf dem Markte fängt es an zu brennen!".
Sie sahen hin und bemerkten wenigen Rauch; die Flamme dämpfte der Tag.
"Das Feuer greift weiter um sich!" rief man, immer durch die Gläser
schauend; auch wurde das Unheil den guten, unbewaffneten Augen der Fürstin
bemerklich.
Von Zeit zu Zeit erkannte man eine rote Flammenglut, der Dampf stieg empor,
und Fürst Oheim sprach: "Laßt uns zurückkehren! Das ist
nicht gut! Ich fürchtete immer, das Unglück zum zweiten Male zu erleben".
Als sie, herabgekommen, den Pferden wieder zugingen, sagte die Fürstin
zu dem alten Herrn: "Reiten Sie hinein, eilig, aber nicht ohne den Reitknecht!
Lassen Sie mir Honorio! Wir folgen sogleich".
Der Oheim fühlte das Vernünftige, ja das Notwendige dieser Worte und
ritt, so eilig als der Boden erlaubte, den wüsten, steinigen Hang hinunter.
Als die Fürstin aufsaß, sagte Honorio: "Reiten Euer Durchlaucht,
ich bitte, langsam! In der Stadt wie auf dem Schloß sind die Feueranstalten
in bester Ordnung, man wird sich durch einen so unerwartet außerordentlichen
Fall nicht irre machen lassen. Hier aber ist ein böser Boden, kleine Steine
und kurzes Gras, schnelles Reiten ist unsicher; ohnehin, bis wir hineinkommen,
wird das Feuer schon nieder sein".
Die Fürstin glaube nicht daran; sie sah den Rauch sich verbreiten, sie
glaubte einen aufflammenden Blitz gesehen, einen Schlag gehört zu haben,
und nun bewegten sich in ihrer Einbildungskraft alle die Schreckbilder, welche
des trefflichen Oheims wiederholte Erzählung von dem erlebten Jahrmarktsbrande
leider nur zu tief eingesenkt hatte.
Fürchterlich wohl war jener Fall, überraschend und eindringlich genug,
um zeitlebens eine Ahnung und Vorstellung wiederkehrenden Unglücks ängstlich
zurückzulassen, als zur Nachtzeit auf dem großen, budenreichen Marktraum
ein plötzlicher Brand Laden auf Laden ergriffen hatte, ehe noch die in
und an diesen leichten Hütten Schlafenden aus tiefen Träumen geschüttelt
wurden, der Fürst selbst als ein ermüdet angelangter, erst eingeschlafener
Fremder ans Fenster sprang, alles fürchterlich erleuchtet sah, Flamme nach
Flamme, rechts und links sich überspringend, ihm entgegenzüngelte.
Die Häuser des Marktes, vom Widerschein gerötet, schienen schon zu
glühen, drohend sich jeden Augenblick zu entzünden und in Flammen
aufzuschlagen; unten wütete das Element unaufhaltsam, die Bretter prasselten,
die Latten knackten, Leinwand flog auf, und ihre düstern, an den Enden
flammend ausgezackten Fetzen trieben in der Höhe sich umher, als wenn die
bösen Geister in ihrem Elemente, um und um gestaltet, sich mutwillig tanzend
verzehren und da und dort aus den Gluten wieder auftauchen wollten.
Dann aber mit kreischendem Geheul rettete jeder, was zur Hand lag; Diener und
Knechte mit den Herren bemühten sich, von Flammen ergriffene Ballen fortzuschleppen,
von dem brennenden Gestell noch einiges wegzureißen, um es in die Kiste
zu packen, die sie denn doch zuletzt den eilenden Flammen zum Raube lassen mußten.
Wie mancher wünschte nur einen Augenblick Stillstand dem heranprasselnden
Feuer, nach der Möglichkeit einer Besinnung sich umsehend, und er war mit
aller seiner Habe schon ergriffen; an der einen Seite brannte, glühte schon,
was an der andern noch in finsterer Nacht stand. Hartnäckige Charaktere,
willensstarke Menschen widersetzten sich grimmig dem grimmigen Feinde und retteten
manches mit Verlust ihrer Augenbraunen und Haare. Leider nun erneuerte sich
vor dem schönen Geiste der Fürstin der wüste Wirrwarr, nun schien
der heitere morgendliche Gesichtskreis umnebelt, ihre Augen verdüstert;
Wald und Wiese hatten einen wunderbaren, bänglichen Anschein.
In das friedliche Tal einreitend, seiner labenden Kühle nicht achtend,
waren sie kaum einige Schritte von der lebhaften Quelle des nahen fließenden
Baches herab, als die Fürstin ganz unten im Gebüsche des Wiesentals
etwas Seltsames erblickte, das sie alsobald für den Tiger erkannte; heranspringend,
wie sie ihn vor kurzem gemalt gesehen, kam er entgegen, und dieses Bild zu den
furchtbaren Bildern, die sie soeben beschäftigten, machte den wundersamsten
Eindruck.
"Flieht! Gnädige Frau", rief Honorio, "flieht!".
Sie wandte das Pferd um, dem steilen Berg zu, wo sie herabgekommen waren. Der
Jüngling aber, dem Untier entgegen, zog die Pistole und schoß, als
er sich nahe genug glaubte. Leider jedoch war gefehlt; der Tiger sprang seitwärts,
das Pferd stutzte, das ergrimmte Tier aber verfolgte seinen Weg aufwärts,
unmittelbar der Fürstin nach. Sie sprengte, was das Pferd vermochte, die
steile, steinige Strecke hinan, kaum fürchtend, daß ein zartes Geschöpf,
solcher Anstrengung ungewohnt, sie nicht aushalten werde. Es übernahm sich,
von der bedrängten Reiterin angeregt, stieß am kleinen Gerölle
des Hanges an und wieder an und stürzte zuletzt nach heftigem Bestreben
kraftlos zu Boden. Die schöne Dame, entschlossen und gewandt, verfehlte
nicht, sich strack auf ihre Füße zu stellen, auch das Pferd richtete
sich auf, aber der Tiger nahte schon, obgleich nicht mit heftiger Schnelle;
der ungleiche Boden, die scharfen Steine schienen seinen Antrieb zu hindern,
und nur daß Honorio unmittelbar hinter ihm herflog, neben ihm gemäßigt
heraufritt, schien seine Kraft aufs neue anzuspornen und zu reizen.
Beide Renner erreichten zugleich den Ort, wo die Fürstin am Pferde stand;
der Ritter beugte sich herab, schoß und traf mit der zweiten Pistole das
Ungeheuer durch den Kopf, daß es sogleich niederstürzte und ausgestreckt
in seiner Länge erst recht die Macht und Furchtbarkeit sehen ließ,
von der nur noch das Körperliche übriggeblieben dalag.
Honorio war vom Pferde gesprungen und kniete schon auf dem Tiere, dämpfte
seine letzten Bewegungen und hielt den gezogenen Hirschfänger in der rechten
Hand. Der Jüngling war schön, er war herangesprengt, wie ihn die Fürstin
oft im Lanzen- und Ringelspiel gesehen hatte. Ebenso traf in der Reitbahn seine
Kugel im Vorbeisprengen den Türkenkopf auf dem Pfahl gerade unter dem Turban
in die Stirne, ebenso spießte er, flüchtig heransprengend, mit dem
blanken Säbel das Mohrenhaupt vom Boden auf. In allen solchen Künsten
war er gewandt und glücklich, hier kam beides zustatten.
"Gebt ihm den Rest", sagte die Fürstin; "ich fürchte,
er beschädigt Euch noch mit den Krallen".
"Verzeiht!" erwiderte der Jüngling, "er ist schon tot genug,
und ich mag das Fell nicht verderben, das nächsten Winter auf Eurem Schlitten
glänzen soll".
"Frevelt nicht!" sagte die Fürstin; "alles, was von Frömmigkeit
im tiefen Herzen wohnt, entfaltet sich in solchem Augenblick".
"Auch ich", rief Honorio, "war nie frömmer als jetzt eben;
deshalb aber denk ich ans Freudigste; ich blicke dieses Fell nur an, wie es
Euch zur Lust begleiten kann".
"Es würde mich immer an diesen schrecklichen Augenblick erinnern",
versetzte sie.
"Ist es doch", erwiderte der Jüngling mit glühender Wange,
"ein unschuldigeres Triumphzeichen, als wenn die Waffen erschlagener Feinde
vor dem Sieger her zur Schau getragen wurden".
"Ich werde mich an Eure Kühnheit und Gewandtheit dabei erinnern und
darf nicht hinzusetzen, daß Ihr auf meinen Dank und auf die Gnade des
Fürsten lebenslänglich rechnen könnt. Aber steht auf! Schon ist
kein Leben mehr im Tiere. Bedenken wir das Weitere! Vor allen Dingen steht auf!"
"Da ich nun einmal kniee", versetzte der Jüngling, "da ich
mich in einer Stellung befinde, die mir auf jede andere Weise untersagt wäre,
so laßt mich bitten, von der Gunst und von der Gnade, die Ihr mir zuwendet,
in diesem Augenblick versichert zu werden. Ich habe schon so oft Euren hohen
Gemahl gebeten um Urlaub und Vergünstigung einer weitern Reise. Wer das
Glück hat, an Eurer Tafel zu sitzen, wen Ihr beehrt, Eure Gesellschaft
unterhalten zu dürfen, der muß die Welt gesehen haben. Reisende strömen
von allen Orten her, und wenn von einer Stadt, von einem wichtigen Punkte irgendeines
Weltteils gesprochen wird, ergeht an den Eurigen jedesmal die Frage, ob er daselbst
gewesen sei. Niemanden traut man Verstand zu, als wer das alles gesehen hat;
es ist, als wenn man sich nur für andere zu unterrichten hätte".
"Steht auf!" wiederholte die Fürstin; "ich möchte nicht
gern gegen die Überzeugung meines Gemahls irgend etwas wünschen und
bitten; allein wenn ich nicht irre, so ist die Ursache, warum er Euch bisher
zurückhielt, bald gehoben. Seine Absicht war, Euch zum selbständigen
Edelmann herangereift zu sehen, der sich und ihm auch auswärts Ehre machte
wie bisher am Hofe, und ich dächte, Eure Tat wäre ein so empfehlender
Reisepaß, als ein junger Mann nur in die Welt mitnehmen kann".
Daß anstatt einer jugendlichen Freude eine gewisse Trauer über sein
Gesicht zog, hatte die Fürstin nicht Zeit zu bemerken, noch er seiner Empfindung
Raum zu geben; denn hastig den Berg herauf, einen Knaben an der Hand, kam eine
Frau geradezu auf die Gruppe los, die wir kennen, und kaum war Honorio, sich
besinnend, aufgestanden, als sie sich heulend und schreiend über den Leichnam
herwarf und an dieser Handlung sowie an einer obgleich reinlich anständigen,
doch bunten und seltsamen Kleidung sogleich erraten ließ, sie sei die
Meisterin und Wärterin dieses dahingestreckten Geschöpfes, wie denn
der schwarzaugige, schwarzlockige Knabe, der eine Flöte in der Hand hielt,
gleich der Mutter weinend, weniger heftig, aber tief gerührt neben ihr
kniete.
Den gewaltsamen Ausbrüchen der Leidenschaft dieses unglücklichen Weibes
folgte, zwar unterbrochen, stoßweise ein Strom von Worten, wie ein Bach
sich in Absätzen von Felsen zu Felsen stürzt. Eine natürliche
Sprache, kurz und abgebrochen, machte sich eindringlich und rührend. Vergebens
würde man sie in unsern Mundarten übersetzen wollen; den ungefähren
Inhalt dürfen wir nicht verfehlen:
"Sie haben dich ermordet, armes Tier! Ermordet ohne Not! Du warst zahm
und hättest dich gern ruhig niedergelassen und auf uns gewartet; denn deine
Fußballen schmerzten dich, und deine Krallen hatten keine Kraft mehr!
Die heiße Sonne fehlte dir, sie zu reifen. Du warst der Schönste
deinesgleichen; wer hat je einen königlichen Tiger so herrlich ausgestreckt
im Schlaf gesehen, wie du nun hier liegst, tot, um nicht wieder aufzustehen!
Wenn du des Morgens aufwachtest beim frühen Tagschein und den Rachen aufsperrtest,
ausstreckend die rote Zunge, so schienst du uns zu lächeln, und wenn schon
brüllend, nahmst du doch spielend dein Futter aus den Händen einer
Frau, von den Fingern eines Kindes! Wie lange begleiteten wir dich auf deinen
Fahrten, wie lange war deine Gesellschaft uns wichtig und fruchtbar! Uns, uns
ganz eigentlich kam die Speise von den Fressern und süße Labung von
den Starken. So wird es nicht mehr sein! Wehe! Wehe!"
Sie hatte nicht ausgeklagt, als über die mittlere Höhe des Bergs am
Schlosse herab Reiter heransprengten, die alsobald für das Jagdgefolge
des Fürsten erkannt wurden, er selbst voran. Sie hatten, in den hintern
Gebirgen jagend, die Brandwolken aufsteigen sehen und durch Täler und Schluchten,
wie auf gewaltsam hetzender Jagd, den geraden Weg nach diesem traurigen Zeichen
genommen. Über die steinige Blöße einhersprengend, stutzten
und starrten sie, nun die unerwartete Gruppe gewahr werdend, die sich auf der
leeren Fläche merkwürdig auszeichnete.
Nach dem ersten Erkennen verstummte man, und nach einigem Erholen ward, was
der Anblick nicht selbst ergab, mit wenigen Worten erläutert. So stand
der Fürst vor dem seltsamen, unerhörten Ereignis, einen Kreis umher
von Reitern und Nacheilenden zu Fuße. Unschlüssig war man nicht,
was zu tun sei; anzuordnen, auszuführen war der Fürst beschäftigt,
als ein Mann sich in den Kreis drängte, groß von Gestalt, bunt und
wunderlich gekleidet wie Frau und Kind. Und nun gab die Familie zusammen Schmerz
und Überraschung zu erkennen.
Der Mann aber, gefaßt, stand in ehrfurchtsvoller Entfernung vor dem Fürsten
und sagte: "Es ist nicht Klagenszeit; ach, mein Herr und mächtiger
Jäger, auch der Löwe ist los, auch hier nach dem Gebirg ist er hin,
aber schont ihn, habt Barmherzigkeit, daß er nicht umkomme wie dies gute
Tier!"
"Der Löwe?" sagte der Fürst,"hast du seine Spur?"
"Ja, Herr! Ein Bauer dort unten, der sich ohne Not auf einen Baum gerettet
hatte, wies mich weiter hier links hinauf, aber ich sah den großen Trupp
Menschen und Pferde vor mir, neugierig und hilfsbedürftig eilt ich hierher".
"Also", beorderte der Fürst, "muß die Jagd sich auf
diese Seite ziehen; ihr ladet eure Gewehre, geht sachte zu Werk, es ist kein
Unglück, wenn ihr ihn in die tiefen Wälder treibt. Aber am Ende, guter
Mann, werden wir euer Geschöpf nicht schonen können; warum wart ihr
unvorsichtig genug, sie entkommen zu lassen!"
"Das Feuer brach aus", versetzte jener; "wir hielten uns still
und gespannt; es verbreitete sich schnell, aber fern von uns. Wir hatten Wasser
genug zu unserer Verteidigung, aber ein Pulverschlag flog auf und warf die Brände
bis an uns heran, über uns weg ; wir übereilten uns und sind nun unglückliche
Leute".
Noch war der Fürst mit Anordnungen beschäftigt, aber einen Augenblick
schien alles zu stocken, als oben vom alten Schloß herab eilig ein Mann
heranspringend gesehen ward, den man bald für den angestellten Wächter
erkannte, der die Werkstätte des Malers bewachte, indem er darin seine
Wohnung nahm und die Arbeiter beaufsichtigte.
Er kam außer Atem springend, doch hatte er bald mit wenigen Worten angezeigt:
oben hinter der höhern Ringmauer habe sich der Löwe im Sonnenschein
gelagert, am Fuße einer hundertjährigen Buche, und verhalte sich
ganz ruhig. Ärgerlich aber schloß der Mann: "Warum habe ich
gestern meine Büchse in die Stadt getragen, um sie ausputzen zu lassen!
Hätte ich sie bei der Hand gehabt, er wäre nicht wieder aufgestanden,
das Fell wäre doch mein gewesen, und ich hätte mich dessen, wie billig,
zeitlebens gebrüstet".
Der Fürst, dem seine militärischen Erfahrungen auch hier zustatten
kamen, da er sich wohl schon in Fällen gefunden hatte, wo von mehreren
Seiten unvermeidliches Übel herandrohte, sagte hierauf: "Welche Bürgschaft
gebt Ihr mir, daß, wenn wir Eures Löwen schonen, er nicht im Lande
unter den Meinigen Verderben anrichtet? "
"Hier diese Frau und dieses Kind", erwiderte der Vater hastig, "erbieten
sich, ihn zu zähmen, ihn ruhig zu erhalten, bis ich den beschlagenen Kasten
heraufschaffe, da wir ihn denn unschädlich und unbeschädigt wieder
zurückbringen werden".
Der Knabe schien seine Flöte versuchen zu wollen, ein Instrument von der
Art, das man sonst die sanfte, süße Flöte zu nennen pflegte;
sie war kurz geschnäbelt wie die Pfeifen; wer es verstand, wußte
die anmutigsten Töne daraus hervorzulocken. Indes hatte der Fürst
den Wärtel gefragt, wie der Löwe hinaufgekommen.
Dieser aber versetzte: "Durch den Hohlweg, der, auf beiden Seiten vermauert,
von jeher der einzige Zugang war und der einzige bleiben soll; zwei Fußpfade,
die noch hinaufführten, haben wir dergestalt entstellt, daß niemand
als durch jenen ersten engen Anweg zu dem Zauberschlosse gelangen könne,
wozu es Fürst Friedrichs Geist und Geschmack ausbilden will".
Nach einigem Nachdenken, wobei sich der Fürst nach dem Kinde umsah, das
immer sanft gleichsam zu präludieren fortgefahren hatte, wendete er sich
zu Honorio und sagte: "Du hast heute viel geleistet, vollende das Tagwerk!
Besetze den schmalen Weg! Haltet eure Büchsen bereit, aber schießt
nicht eher, als bis ihr das Geschöpf nicht sonst zurückscheuchen könnt;
allenfalls macht ein Feuer an, vor dem er sich fürchtet, wenn er herunter
will! Mann und Frau möge für das übrige stehen".
Eilig schickte Honorio sich an, die Befehle zu vollführen.
Das Kind verfolgte seine Melodie, die keine war, eine Tonfolge ohne Gesetz,
und vielleicht eben deswegen so herzergreifend; die Umstehenden schienen wie
bezaubert von der Bewegung einer liederartigen Weise, als der Vater mit anständigem
Enthusiasmus zu reden anfing und fortfuhr: "Gott hat dem Fürsten Weisheit
gegeben und zugleich die Erkenntnis, daß alle Gotteswerke weise sind,
jedes nach seiner Art. Seht den Felsen, wie er fest steht und sich nicht rührt,
der Witterung trotzt und dem Sonnenschein! Uralte Bäume zieren sein Haupt,
und so gekrönt schaut er weit umher; stürzt aber ein Teil herunter,
so will es nicht bleiben, was es war: es fällt zertrümmert in viele
Stücke und bedeckt die Seite des Hanges. Aber auch da wollen sie nicht
verharren, mutwillig springen sie tief hinab, der Bach nimmt sie auf, zum Flusse
trägt er sie. Nicht widerstehend, nicht widerspenstig, eckig, nein, glatt
und abgerundet gewinnen sie schneller ihren Weg und gelangen von Fluß
zu Fluß, endlich zum Ozean, wo die Riesen in Scharen daherziehen und in
der Tiefe die Zwerge wimmeln.
"Doch wer preist den Ruhm des Herrn, den die Sterne loben von Ewigkeit
zu Ewigkeit! Warum seht ihr aber im Fernen umher? Betrachtet hier die Biene!
Noch spät im Herbst sammelt sie emsig und baut sich ein Haus, winkel- und
waagerecht, als Meister und Geselle. Schaut die Ameise da! Sie kennt ihren Weg
und verliert ihn nicht, sie baut sich eine Wohnung aus Grashalmen, Erdbröslein
und Kiefernadeln, sie baut es in die Höhe und wölbet es zu; aber sie
hat umsonst gearbeitet, denn das Pferd stampft und scharrt alles auseinander;seht
hin!
"Es zertritt ihre Balken und zerstreut ihre Planken, ungeduldig schnaubt
es und kann nicht rasten, denn der Herr hat das Roß zum Gesellen des Windes
gemacht und zum Gefährten des Sturmes, daß es den Mann dahin trage,
wohin er will, und die Frau, wohin sie begehrt. Aber im Palmenwald trat er auf,
der Löwe, ernsten Schrittes durchzog er die Wüste, dort herrscht er
über alles Getier, und nichts widersteht ihm. Doch der Mensch weiß
ihn zu zähmen, und das grausamste der Geschöpfe hat Ehrfurcht vor
dem Ebenbilde Gottes, wornach auch die Engel gemacht sind, die dem Herrn dienen
und seinen Dienern. Denn in der Löwengrube scheute sich Daniel nicht; er
blieb fest und getrost, und das wilde Brüllen unterbrach nicht seinen frommen
Gesang".
Diese mit dem Ausdruck eines natürlichen Enthusiasmus gehaltene Rede begleitete
das Kind hie und da mit anmutigen Tönen; als aber der Vater geendigt hatte,
fing es mit reiner Kehle, heller Stimme und geschickten Läufen zu intonieren
an, worauf der Vater die Flöte ergriff, im Einklang sich hören ließ,
das Kind aber sang:
Aus den Gruben, hier im Graben Hör' ich des Propheten Sang; Engel schweben,
ihn zu laben, Wäre da dem Guten bang? Löw; und Löwin, hin und
wider, Schmiegen sich um ihn heran; Ja, die sanften, frommen Lieder Haben's
ihnen angetan!
Der Vater fuhr fort, die Strophe mit der Flöte zu begleiten; die Mutter
trat hie und da als zweite Stimme mit ein.
Eindringlich aber ganz besonders war, daß das Kind die Zeilen der Strophe
nunmehr zu anderer Ordnung durcheinander schob und dadurch, wo nicht einen neuen
Sinn hervorbrachte, doch das Gefühl in und durch sich selbst aufregend
erhöhte.
Engel schweben auf und nieder, Uns in Tönen zu erlaben, Welch ein himmlischer
Gesang! In den Gruben, in dem Graben Wäre da dem Kinde bang? Diese sanften,
frommen Lieder Lassen Unglück nicht heran; Engel schweben hin und wider,
Und so ist es schon getan.
Hierauf mit Kraft und Erhebung begannen alle drei:
Denn der Ew'ge herrscht auf Erden, Über Meere herrscht sein Blick; Löwen
sollen Lämmer werden, Und die Welle schwankt zurück. Blankes Schwert
erstarrt im Hiebe, Glaub' und Hoffnung sind erfüllt; Wundertätig ist
die Liebe, Die sich im Gebet enthüllt.
Alles war still, hörte, horchte, und nur erst, als die Töne verhallten,
konnte man den Eindruck bemerken und allenfalls beobachten. Alles war wie beschwichtigt,
jeder in seiner Art gerührt. Der Fürst, als wenn er erst jetzt das
Unheil übersähe, das ihn vor kurzem bedroht hatte, blickte nieder
auf seine Gemahlin, die, an ihn gelehnt, sich nicht versagte, das gestickte
Tüchlein hervorzuziehen und die Augen damit zu bedecken. Es tat ihr wohl,
die jugendliche Brust von dem Druck erleichtert zu fühlen, mit dem die
vorhergehenden Minuten sie belastet hatten. Eine vollkommene Stille beherrschte
die Menge; man schien die Gefahren vergessen zu haben, unten den Brand und von
oben das Erstehen eines bedenklich ruhenden Löwen.
Durch einen Wink, die Pferde näher herbeizuführen, brachte der Fürst
zuerst wieder in die Gruppe Bewegung; dann wendete er sich zu dem Weibe und
sagte: "Ihr glaubt also, daß Ihr den entsprungenen Löwen, wo
Ihr ihn antrefft, durch Euren Gesang, durch den Gesang dieses Kindes, mit Hülfe
dieser Flötentöne beschwichtigen und ihn sodann unschädlich sowie
unbeschädigt in seinem Verschluß wieder zurückbringen könntet?"
Sie bejahten es, versichernd und beteuernd; der Kastellan wurde ihnen als Wegweiser
zugegeben. Nun entfernte der Fürst mit wenigen sich eiligst, die Fürstin
folgte langsamer mit dem übrigen Gefolge; Mutter aber und Sohn stiegen,
von dem Wärtel, der sich eines Gewehrs bemächtigt hatte, begleitet,
steiler gegen den Berg hinan. Vor dem Eintritt in den Hohlweg, der den Zugang
zu dem Schloß eröffnete, fanden sie die Jäger beschäftigt,
dürres Reisig zu häufen, damit sie auf jeden Fall ein großes
Feuer anzünden könnten.
"Es ist nicht not", sagte die Frau; "es wird ohne das alles in
Güte geschehen".
Weiter hin, auf einem Mauerstücke sitzend, erblickten sie Honorio, seine
Doppelbüchse in den Schoß gelegt, auf einem Posten als wie zu jedem
Ereignis gefaßt. Aber die Herankommenden schien er kaum zu bemerken; er
saß wie in tiefen Gedanken versunken, er sah umher wie zerstreut. Die
Frau sprach ihn an mit Bitte, das Feuer nicht anzünden zu lassen; er schien
jedoch ihrer Rede wenig Aufmerksamkeit zu schenken.
Sie redete lebhaft fort und rief: "Schöner junger Mann, du hast meinen
Tiger erschlagen, ich fluche dir nicht; schone meinen Löwen, guter junger
Mann! Ich segne dich".
Honorio schaute gerad vor sich hin, dorthin, wo die Sonne auf ihrer Bahn sich
zu senken begann.
"Du schaust nach Abend", rief die Frau; "du tust wohl daran,
dort gibts viel zu tun; eile nur, säume nicht, du wirst überwinden.
Aber zuerst überwinde dich selbst!"
Hierauf schien er zu lächeln; die Frau stieg weiter, konnte sich aber nicht
enthalten, nach dem Zurückbleibenden nochmals umzublicken; eine rötliche
Sonne überschien sein Gesicht, sie glaubte nie einen schöhern Jüngling
gesehen zu haben.
"Wenn Euer Kind", sagte nunmehr der Wärtel, "flötend
und singend, wie Ihr überzeugt seid, den Löwen anlocken und beruhigen
kann, so werden wir uns desselben sehr leicht bemeistern, da sich das gewaltige
Tier ganz nah an die durchbrochenen Gewölbe hingelagert hat, durch die
wir, da das Haupttor verschüttet ist, einen Eingang in den Schloßhof
gewonnen haben. Lockt ihn das Kind hinein, so kann ich die Öffnung mit
leichter Mühe schließen, und der Knabe, wenn es ihm gut deucht, durch
eine der kleinen Wendeltreppen, die er in der Ecke sieht, dem Tiere entschlüpfen.
Wir wollen uns verbergen; aber ich werde mich so stellen, daß meine Kugel
jeden Augenblick dem Kinde zu Hülfe kommen kann".
"Die Umstände sind alle nicht nötig; Gott und Kunst, Frömmigkeit
und Glück müssen das Beste tun".
"Es sei", versetzte der Wärtel; "aber ich kenne meine Pflichten.
Erst führ ich Euch durch einen beschwerlichen Stieg auf das Gemäuer
hinauf, gerade dem Eingang gegenüber, den ich erwähnt habe; das Kind
mag hinabsteigen, gleichsam in die Arena des Schauspiels, und das besänftigte
Tier dort hereinlocken!"
Das geschah; Wärtel und Mutter sahen versteckt von oben herab, wie das
Kind die Wendeltreppen hinunter in dem klaren Hofraum sich zeigte und in der
düstern Öffnung gegenüber verschwand, aber sogleich seinen Flötenton
hören ließ, der sich nach und nach verlor und verstummte. Die Pause
war ahnungsvoll genug; den alten, mit Gefahr bekannten Jäger beengte der
seltene menschliche Fall. Er sagte sich, daß er lieber persönlich
dem gefährlichen Tiere entgegenginge; die Mutter jedoch, mit heiterem Gesicht,
übergebogen horchend, ließ nicht die mindeste Unruhe bemerken.
Endlich hörte man die Flöte wieder; das Kind trat aus der Höhle
hervor mit glänzend befriedigten Augen, der Löwe hinter ihm drein,
aber langsam und, wie es schien, mit einiger Beschwerde. Er zeigte hie und da
Lust, sich niederzulegen; doch der Knabe führte ihn im Halbkreise durch
die wenig entblätterten, buntbelaubten Bäume, bis er sich endlich
in den letzten Strahlen der Sonne, die sie durch eine Ruinenlücke hereinsandte,
wie verklärt niedersetzte und sein beschwichtigendes Lied abermals begann,
dessen Wiederholung wir uns auch nicht entziehen können:
Aus den Gruben, hier im Graben Hör' ich des Propheten Sang; Engel schweben,
ihn zu laben, Wäre da dem Guten bang? Löw; und Löwin, hin und
wider, Schmiegen sich um ihn heran; Ja, die sanften, frommen Lieder Haben's
ihnen angetan!
Indessen hatte sich der Löwe ganz knapp an das Kind hingelegt und ihm die
schwere rechte Vordertatze auf dem Schoß gehoben, die der Knabe fortsingend
anmutig streichelte, aber gar bald bemerkte, daß ein scharfer Dornzweig
zwischen die Ballen eingestochen war. Sorgfältig zog er die verletzende
Spitze hervor, nahm lächelnd sein buntseidenes Halstuch vom Nacken und
verband die greuliche Tatze des Untiers, sodaß die Mutter sich vor Freuden
mit ausgestreckten Armen zurückbog und vielleicht angewohnterweise Beifall
gerufen und geklatscht hätte, wäre sie nicht durch einen derben Faustgriff
des Wärtels erinnert worden, daß die Gefahr nicht vorüber sei.
Glorreich sang das Kind weiter, nachdem es mit wenigen Tönen vorgespielt
hatte:
Denn der Ew'ge herrscht auf Erden, Über Meere herrscht sein Blick; Löwen
sollen Lämmer werden, Und die Welle schwankt zurück. Blankes Schwert
erstarrt im Hiebe, Glaub' und Hoffnung sind erfüllt; Wundertätig ist
die Liebe, Die sich im Gebet enthüllt.
Ist es möglich zu denken, daß man in den Zügen eines so grimmigen
Geschöpfes, des Tyrannen der Wälder, des Despoten des Tierreiches,
einen Ausdruck von Freundlichkeit, von dankbarer Zufriedenheit habe spüren
können, so geschah es hier, und wirklich sah das Kind in seiner Verklärung
aus wie ein mächtiger, siegreicher Überwinder, jener zwar nicht wie
der Überwundene, denn seine Kraft blieb in ihm verborgen, aber doch wie
der Gezähmte, wie der dem eigenen friedlichen Willen Anheimgegebene. Das
Kind flötete und sang so weiter, nach seiner Art die Zeilen verschränkend
und neue hinzufügend:
Und so geht mit guten Kindern Sel'ger Engel gern zu Rat, Böses Wollen zu
verhindern, Zu befördern schöne Tat. So beschwören, fest zu bannen
Liebem Sohn ans zarte Knie Ihn, des Waldes Hochtyrannen Frommer Sinn und Melodie.