Rainer Maria Rilke
René Karl Wilhelm Johann Josef Maria (Rainer ab 1899)

*4. Dezember 1875 Prag
+29. Dezember 1926 Valmont bei Montreux (Leukämie) begraben: Raron (Wallis); Friedhof bei der Kirche.
Selbstverfasste Inschrift auf dem Grabstein:Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern
Sohn des Eisenbahninspektors und verhinderten Offiziers Josef Rilke und seiner Frau Sophie, geb. Entz, einer von gesellschaftlichen Wunschträumen erfüllten, enttäuschten Frau, die sich 1884 von ihrem Mann trennt. Hoffnung der Eltern, der Sohn möge über das Militär zu der gesellschaftlichen Stellung aufsteigen, die ihnen versagt blieb; dieser strebt aber nach dem Abitur mit aller Macht zur Dichterexistenz. Entscheidend für seine künstlerische Entwicklung werden die lebenslange Freundschaft mit Lou Andreas-Salomé (1861-1937) und die Begegnung mit Rodin. Weilt an Hunderten von Orten, genießt die Gastfreundschaft auf den Schlössern adliger Verehrerinnen.
1901 Heirat mit der Bildhauerin Clara Westhoff (1878-1954); Tochter: Ruth (*1901)
Berühmtester deutschsprachiger Lyriker seit Heine. R. gilt am Anfang des Jahrhunderts als d e r Dichter schlechthin; wird z.T. wie ein Heiliger verehrt. Stilexperimente in jungen Jahren, dann Ringen mit der modernen Ausdruckskrise. Suche nach dem poetischen Urzustand, nach Sinnzeichen reinerer Existenz (Rose) im "Weltinnenraum". Sein Werk gehört "zu den Jahrhundertzusammenhängen der deutschen Dichtung, nicht zu denen des Tages" (Musil).
wichtige Lebensdaten:
1882-84 Besuch der Piaristen-Schule in Prag; nach der Trennung der Eltern bei der Mutter
1886-90 Militär-Unterrealschule in St. Pölten
1890-91 Militär-Oberrealschule Mährisch-Weißkirchen
1891-92 Abbruch des Schulbesuchs wegen Krankheit; Handelsakademie in Linz
1892-95 Mai: Abbruch der Ausbildung und Rückkehr nach Prag; private Vorbereitung auf die Matura
1893 Bekanntschaft mit Valerie (Vally) von David-Rhonfeld
1895 Juli: Matura; halbherziges Studium in Prag: Philosophie, deutsche Literatur, Kunstgeschichte
1896 Studium der Rechtswissenschaften; dann Übersiedlung nach München zum Studium der Kunstgeschichte und Ästhetik
1897 März: Reise nach Arco und Venedig; R. lernt Lou Andreas-Salomé kennen; unstetes Wanderleben beginnt. Herbst: Fortsetzung des Studiums in Berlin; Bekanntschaft mit George und Hauptmann
1897-00 Berliner Jahre
1898 Reise nach Arco und Florenz; Dez.: Hamburg, Worpswede
1899 Reisen nach Arco, Prag, Wien (Schnitzler, Hofmannsthal); Apr.: erste Russland-Reise mit dem Ehepaar Andreas (Tolstoi)
1900 zweite Russland-Reise mit Lou Andreas-Salomé (Tolstoi) ; Entfremdung und Trennung; Aug.: Besuch bei Heinrich Vogeler in Worpswede; Bekanntschaft mit Paula Modersohn-Becker und Clara Westhoff
1901 März: zur Mutter nach Arco; Umsiedlung nach Westerwede bei Bremen; Apr.: Heirat; materielle Sorgen; die Wege der Ehegatten trennen sich
1902 Aug.: Übersiedlung nach Paris; Begegnung mit Rodin; Großstadterlebnis; finanzielle Not; Paris Lebenszentrum bis 1914
1903 Reise nach Viareggio; Sommer: Worpswede; Sep.: Italien-Aufenthalt (Venedig, Florenz, Rom; bis Juni 1904)
1904 Reise nach Schweden; Dez.: Oberneuland (bis Febr. 1905)
1905 Aufenthalte in Dresden, Berlin, Worpswede, Göttingen, Kassel, Marburg, Darmstadt; Sep.-Okt.: bei Rodin in Meudon; Vortragsreisen
1906 Jan.-Mai: Privatsekretär Rodins; März: Tod des Vaters; Juli: Reise nach Belgien; Dez.: Capri (bis Mai 1907)
1907 Reise nach Paris; Vortragsreisen; Venedig
1908 Berlin, München, Rom; Feb.-Apr.: Capri; Mai: Wohnung in Paris
1909 Mai: Provence-Reise; Okt.: Avignon; Dez.: Bekanntschaft mit der Fürstin Marie von Thurn und Taxis
1910 Vortragsreisen; März-Mai: Italien (Rom, Duino, Venedig); Mai-Juli: Paris (André Gide); Sommer: bei der Familie in Oberneuland; Herbst/Winter: Reisen nach München, Köln, Paris, Algier, Tunis
1911 Ägypten-Reise; Apr.-Juli: Paris; Juli: Böhmen; Sep.: Deutschland-Reise; Okt.: Paris; Gast der Fürstin von Thurn und Taxis in Duino (bis Mai 1912)
1912 Venedig; Nov.: Spanienreise (Toledo, Madrid, Sevilla, Ronda; bis Feb. 1913)
1913 Feb.: Paris; Sommer: an versch. Orten in Deutschland; Okt.: Paris
1914 Feb.-März: Berlin, München, Zürich; März: Paris; Apr.: Italien (Duino, Venedig, Assisi, Mailand); Mai-Juli: Paris; Juli: Leipzig, München, Irschenhausen (Malerin Lulu Albert-Lazard); Sep.: Umzug von Paris nach München
1915 Musterung in München; Dez.: Berlin, Wien (Sigmund Freud)
1916 Jan.: drei Wochen beim österreichischen Landsturm; dann als Schreiber im Kriegsarchiv Wien (zum "Heldenfrisieren"; bis Juli); Hofmannsthal, Zweig; Rückkehr nach München
1919 Rückzug in die Schweiz
1920 Sommer: Venedig; Nov: auf Schloss Berg am Irschel (bis Mai 1921)
1921 Verhältnis mit der Malerin Baladine Klossowska; Mai-Juni: Prieuré d´Etoy und Sierre; Übersiedlung aufs Schloss Muzot
1922 Heirat der Tochter Ruth
1923 Reisen in der Schweiz; Dez.: Kuraufenthalt im Sanatorium Valmont sur Territet (bis Jan. 1924)
1924 Apr.: Begegnung mit Valéry; Nov.: Valmont (bis. Jan. 1925)
1925 Paris (Valéry, Claudel, Hofmannsthal, Gide); Muzot; Nov: Valmont (bis Mai 1926)
1926 Rückkehr nach Muzot; Juli: Bad Ragaz; Sep.-Nov.: Lusanne, Sierre; Dez.: im Sanatorium in Valmont

Frühe Kindheit in Prag (1875-1882)

René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke wird am 4. Dezember 1875 in Prag geboren. Sein Vater Josef Rilke (1838-1906) ist nach einer gescheiterten Militärlaufbahn Beamter in einer Prager Eisenbahngesellschaft. Die Mutter Sophie (1851-1931) ist Tochter eines Kaufmannes und Kaiserlichen Rats. Sie fühlt sich unter ihrem Stande verheiratet und trennt sich 1885 von ihrem Mann, um in die Nähe des Kaiserlichen Hofes nach Wien zu ziehen. Auch das Verhältnis zu ihrem Sohn ist gespannt. Sie zieht René bis zu seiner Einschulung als Mädchen groß - mit Puppen, Kleidchen und langen Zöpfen.

Schulzeit (1882-1895)

Seine ersten vier Schuljahre verbringt Rilke auf einer katholischen Klosterschule in Prag. Er ist ein guter Schüer, aber weil ein Gymnasium zu teuer ist, soll er die Offizierslaufbahn einschlagen. Er kommt auf eine Militärschule in Österreich. Auch hier schneidet Rilke in den theoretischen Fächern sehr gut ab. Die körperlichen Anforderungen und der rauhe Umgang der Mitschüer sind für den sensiblen Jungen jedoch eine wachsende Belastung. Nach der Versetzung auf die Militär-Oberrealschule 1890 sind seine Kräfte schließlich erschöpft. Rilke bricht die Ausbildung ab.
Gesundheitlich kuriert kommt René auf Beschluß der Eltern im Herbst 1891 auf die Handelsschule in Linz. In dieser Zeit veröffentlicht er sein erstes Gedicht in einer Zeitung, und er fixiert sich immer mehr auf die Literatur. Die Schule bricht er nach einem Jahr endgültig ab, um 1892 für Privatstudien nach Prag heimzukehren. Mit der finanziellen Unterstützung eines Onkels holt er in drei Jahren das nötige Wissen nach, und er besteht die Reifeprüfung 1895 "mit Auszeichung". Darauf schreibt sich René an der Prager Universität ein für die Fächer Geschichte, Kunst und Literatur. Auf elterlichen Wunsch belegt er auch ein Semester Rechtslehre.

München (1896-1899)

1896 geht Rilke als Student der Philosophie nach München, damals ein kosmopolites Zentrum. Im folgenden Jahr lernt er die 36-jährige Lou Andreas-Salomé kennen. Die Tochter eines Petersburger Generals und einer Deutschen ist eine schillernde Persönlichkeit der Münchner Geisteswelt. Sie hat sich literarisch bereits mit mehreren Büchern etabliert. So ist Lou die Autorin der ersten Biografie Friedrich Nietzsches, mit dem sie eine vorübergehende, enge Freundschaft verbunden hatte. Als Rilke sie trifft, ist sie bereits zehn Jahre mit dem Orientalisten Friedrich Karl Andreas verheiratet. In ihrem Verhältnisses mit dem jungen Dichter ist sie Rilke Geliebte, mütterliche Freundin und intellektuelle Lehrerin zugleich. Sie vermittelt ihm Nietzsches Gedankenwelt und begeistert ihn für ihre Heimat, Rußland. Unter Lous Einfluß ändert er selbst seine Handschrift und den Vornamen (von "René zu "Rainer").

Rußlandreisen (1899-1900)

Gemeinsam mit dem Ehepaar Salomé bereist Rilke im Frühling 1899 zum ersten Mal Rußland. In Moskau und St. Petersburg besichtigt er Museen und trifft Maler und Schriftsteller (u.a. Leo Tolstoi). Nach seiner Rückkehr verfaßt Rilke Gedichte für das "Buch der Bilder" und das "Stundenbuch", er schreibt das Prosawerk "Geschichten vom Lieben Gott" sowie seinen Erfolgsband "Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke". Im Mai 1900 fährt er wieder nach Rußland, diesmal mit Lou allein. Sie besuchen Moskau und St. Petersburg und reisen durch die Provinz. Rilkes Eindruck von Rußland ist der eines einfachen, ursprünglichen und unverdorbenen Landes, in dem Glaube und Brüderlichkeit die Menschen zusammenhält. Die soziale Not dieses Landes übersieht er, obwohl er die Sprache einigermaßen beherrscht und von einer Russin begleitet wird.

Worpswede (1900-1904)

Bald nach der Heimkehr besucht Rilke die Künstlerkolonie Worpswede bei Bremen. Er will dort gemeinsam mit dem Maler Heinrich Vogeler den Gedichtband "Mir zur Feier" fertigstellen. Bei den dortigen Künstlern findet er schnell Resonanz, und so zieht Rilke 1901 ganz in das Dorf. Er lernt die Bildhauerin Clara Westhoff kennen, eine ehemalige Schülerin von Rodin. Im April 1901 heiraten die beiden. Im selben Jahr kommt die Tochter Ruth zur Welt. Es stellt sich aber kein Familienleben ein. Man beschließt, sich in Freundschaft zu trennen, auf daß man voneinander ungestört seiner Arbeit nachgehen könne. Die Künstler, mit denen er in der Moor- und Heidelandschaft lebte, stellt Rilke in der Monographie "Worpswede" dar.

Paris (1904-1914)

Rodin, der auch der Lehrer von Clara Westhoff war, soll die prägende Person in Rilkes nächstem Lebensabschnitt werden. Mit dem Auftrag, eine Monographie über den Bildhauer zu schreiben, begibt sich dieser im August 1902 nach Paris. Rodin ist 35 Jahre älter als Rilke, ein etablierter und vielbeschäftiger Künstler. Aber er nimmt sich Zeit für den jungen deutschen Dichter, der noch Probleme mit dem Französischen hat. Rilke ist bald ein regelmäßiger Gast in Rodins Atelier. Der Bildhauer vermittelt ihm sein Kunstverständnis und vor allem seine Arbeitsmoral: "Il faut travailler, rien que travailler, et il faut avoir patience." Die Verschiedenheit der Temperamente belastet jedoch die Beziehung, und so kommt es 1906 zu einem Bruch. Man versöhnt sich im folgenden Jahr, und Rilke wird noch einmal Rodins Sekretär, aber 1907 folgt das endgültige Zerwürfnis.
Zu Zeiten ihrer Freundschaft weist Rodin ihn in die Kunststadt Paris ein. Mit ihrem unerschöpfliches Reservoir an schönen Eindrücken in Museen, Parks und Boulevards versorgt diese den Dichter mit Motiven für seine "Dinggedichte", wie "Das Karussell" oder "Archaischer Torso Apollos". Rilke veröffentlicht diese Eindrücke in den Bänden Neue Gedichte und "Der neuen Gedichte anderer Teil". Das Paris der Jahrhundertwende ist aber auch eine moderne, anonyme Metropole, an deren Rohheit Rilke zu zerbrechen droht, wie zuvor in der Militärakademie. Das Elend des mechanisierten Großstadtlebens ist ein Hauptmotiv des Romans "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge".

Weitere Reisen

Während seiner Pariser Jahre reist Rilke viel. Ab 1903 hält er sich häufiger in Italien auf. In dem Badeort Viareggio schreibt er das "Stundenbuch", von September 1903 bis Juni 1904 fährt er mit Clara nach Rom, und in den Jahren 1906 bis 1908 besucht er wiederholt Capri. Schweden und Dänemark sind 1904 die seine Ziele. Nach einem weiteren Rombesuch fährt er an die Adria nach Duino. Dort empfängt ihn die Fürstin Marie von Thurn und Taxis auf ihrem Schloß . Zwischen dem Dichter und der Dame entsteht eine lebenslange Freundschaft, und das fürstliche Anwesen wird 1912 Enstehungsort der ersten zwei "Duineser Elegien". Im November 1910 macht Rilke sich zusammen mit Freunden nach Nordafrika auf. Man durchquert es von Algier über Tunis nach Kairo, um dann den Nil hoch zu fahren bis hinter Luxor und Assuan. Rilke beeindrucken der ägyptische Totenkult und die altägyptische Plastik, aber ihm scheint die Reise im Nachhinein doch als etwas "verfehltes". Erfreulicher ist die Fahrt nach Spanien im Jahre 1912: Auf den Spuren des Malers El Greco zieht es Rilke nach Toledo und in den Süden des Landes. Neben der Kunst fasziniert ihn das Nebeneinander von Katholizismus und Islam sowie natürlich die Spanische Landschaft.

Krieg und Revolution (1914-1919)

Als der erste Weltkrieg ausbricht, weilt Rilke gerade in München. Die Katastrophe trifft ihn völlig unerwartet: In Paris hat er eine vollständig eingerichtete Wohnung zurückgelassen. In einer ersten Euphorie spricht er dem Krieg eine mythische Größe zu. Angesichts der Brutalität der Geschehnisse ändert er schnell seine Meinung. Im ersten Kriegsjahr beschäftigt ihn allerdings vor allem eine Kurbekanntschaft, mit der er sogar kurzfristig zusammenzieht: Es ist die 23-jährige, verheiratete Malerin Lulu Albert-Lasard, die ihn auch zu einigen Gedichten inspiriert, wie "Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens". Rilkes Produktivität wächst zum Herbst 1915, als er die Vierte Duineser Elegie verfaßt. Es folgt eine Krise, die ein mehrjähriges künstlerisches Verstummen Rilkes hervorruft: Die Verpflichtung in den Dienst der österreichischen Armee. Nach einer dreiwöchigen für ihn verheerenden Drillzeit im Januar 1916 kommt er in das österreichische Kriegsarchiv. Dank seiner einflußreichen Freundinnen und Freunde wird er schon im Juli 1916 aus dem Militärdienst entlassen. Das Ende des Krieges und die revolutionäre Zeit danach lassem ihm jedoch auch als Zivilisten keine Ruhe für weitere literarische Arbeiten. Statt dessen bemüht er sich, das Zeitgeschehen nachzuvollziehen, liest viele Zeitungen und diskutiert die Wandlungen in Briefen. Er unterhält Beziehungen zu allen politischen Lagern, vom Hochadel bis zu sozialistischen Revolutionären. So kommt es u.a. zu mehreren Durchsuchungen seiner Wohnung.

Die letzten Jahre in der Schweiz (1919-1926)

Äußerer Anlaß für Rilkes Umzug in die Schweiz ist die Einladung eines Lesezirkels zu einer Vortragsreise. Rilke nutzt diese Gelegenheit, eine Zäsur zu machen. Nach dem Zerfall des Habsburger Vielvölkerstaates ist sein Paß ungültig. So beantragt der gebürtige Prager die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft, die er 1920 erhält. Er reist viel herum, fährt nach Venedig und Paris. Nach Deutschland kehrt er nicht zurück. Den Winter 1920/21 verbringt Rilke unproduktiv in einem Schloß im zürcher Weinland. Im folgenden Frühling findet er ein Heim, das ganz seinen Bedürfnissen entspricht: Einen heruntergekommenen Turm aus dem 13. Jahrhundert, einsam gelegen im Rhône-Tal. Bevor der Dichter einzieht in den "Turm von Muzot" (sprich: "Müsott"), wird dieser noch schnell renoviert und mit einer Haushälterin besetzt. Jetzt gilt es, die Arbeit zu vollenden, von der ihn die Einberufung zum ersten Weltkrieg weggerissen hatte und für die er danach nie wieder die Konzentration fand: Die Duineser Elegien. Der Bann hält bis zum Februar 1922. In diesem Monat verfaßt Rilke von 2. bis zum 5. zunächst 26 " Sonette an Orpheus", vom 7. bis 14. die sechs fehlenden Duineser Elegien und vom 15. bis zum 23. weitere 29 Sonette an Orpheus. In den folgenden Jahren bleibt Muzot Rilkes Rückhalt. Von dort reist er viel umher, um Freunde zu besuchen, und verbringt eine glückliche Zeit. Er verfaßt weitere Gedichte, teilweise in Französisch. 1925 verbringt er noch einmal einen Frühling in Paris. Dort wird er wo der Dichter von Literaten wie André Gide und Paul Valéry gefeiert. Eine Krankheit, wegen der Rilke schon seit 1923 immer wieder zu Aufenthalten im Sanatorium gezwungen war, erfordert jedoch seine plötzliche Abfahrt. Sein Zustand verschlimmert sich 1926 weiter. Er bleibt in der Schweiz und kommt im Dezember in das Sanatorium von Val-Mont. Am 29. Dezember 1926 stirbt Rilke an Leukämie. Am zweiten Januar 1927 wird er in Raron im Kanton Wallis beigesetzt. Sein Grabspruch lauet auf eigenen Wunsch: Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, / Niemandes Schlaf zu sein unter soviel / Lidern.

Werke: (e = entstanden; a = Uraufführung)
Gedichtbände
1894 Leben und Lieder. Bilder und Tagebuchblätter
1896 Larenopfer
1897 Traumgekrönt. Neue Gedichte
1898 Advent
1899 Mir zur Feier. Gedichte
1902 Das Buch der Bilder
1905 Das Stunden-Buch / Buch vom mönchischen Leben (1899 e) / Buch von der Pilgerschaft (1901 e) / Buch von der Armut und vom Tode (1903 e)
1907 Neue Gedichte
1908 Der Neuen Gedichte anderer Teil
1909 Die frühen Gedichte
1909 (1908 e) Requiem (für Paula Becker-Modersohn und Graf Wolf Kalckreuth)
1913 Erste Gedichte
1913 (1912 e) Das Marien-Leben
1915 (1914 e) Fünf Gesänge
1923 (1911-22 e) Duineser Elegien
1923 (1922 e) Die Sonette an Orpheus
Sammlungen französischer Gedichte
1926 (1924-25 e) Vergers suivi des Quatrains Valaisans
1927 (1924/26 e) Les Fênetres. Dix poèmes
1927 (1924 e) Les Roses
Monographien
1903 Worpswede. Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Fritz Overbeck, Hans am Ende, Heinrich Vogeler
1903 Auguste Rodin
erzählende Prosa
1899 Zwei Prager Geschichten
1900 (1904) Vom lieben Gott und Anderes (= Geschichten vom lieben Gott)
1902 Die Letzten
1904 (1. Fass. 1899 e) Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke
Roman
1910 (1904-10 e) Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
dramatische Dichtungen
1920 (1898 e) Die weiße Fürstin. Eine Szene am Meer
1902 (1900 e; 1901 a Berlin) Das tägliche Leben. Drama in 2 Akten
Übertragungen
1908 Elizabeth Barrett-Brownings Sonette nach dem Portugiesischen
1911 Maurice de Guérin, Der Kentauer
1912 Die Liebe der Magdalena. Ein französischer Sermon...
1913 Portugiesische Briefe. Die Briefe der Marianna Alcoforado
1914 André Gide, Die Rückkehr des verlorenen Sohnes
1918 Die vierundzwanzig Sonette der Louize Labé Lyoneserin
1925 Paul Valéry, Gedichte
1927 Paul Valéry, Eupalinos oder über die Architektur. Eingel. durch Die Seele und der Tanz

Erzählungen

Rilkes Erzählungen stammen stammen aus den Jahren von 1893 bis 1902 und sind damit vornehmlich seinem Frühwerk zuzuordnen. Der Bezug zu Rilkes Biographie ist offenkundig in den Schülergeschichten Die Turnstunde (1902) und Pierre Dumont (1894). Die Angst der Protagonisten Gruber und Pierre Dumont vor ihren Schulen gibt eine Vorstellung der Leiden des Zöglings René Rilke in seiner Militär-Oberrealschule St. Pölten (welche übrigens einen zweifelhaften Ruhm erlangte durch Robert Musils Novelle «Die Verwirrungen des Zöglings Törless»).
In Der Apostel stellt Rilke einen dämonischen Zeitgenossen dar, welcher vor einer wohlhabenden Kaffeegesellschaft seine sozialdarwinistischen, wohl auch an Nietzsches Werke anlehnende Gedanken predigt.

Die Turnstunde (1902)

In der Militärschule zu Sankt Severin. Turnsaal. Der Jahrgang steht in den hellen Zwillichblusen, in zwei Reihen geordnet, unter den großen Gaskronen. Der Turnlehrer, ein junger Offizier mit hartem braunen Gesicht und höhnischen Augen, hat Freiübungen kommandiert und verteilt nun die Riegen. »Erste Riege Reck, zweite Riege Barren, dritte Riege Bock, vierte Riege Klettern! Abtreten!« Und rasch, auf den leichten, mit Kolophonium isolierten Schuhen, zerstreuen sich die Knaben. Einige bleiben mitten im Saale stehen, zögernd, gleichsam unwillig. Es ist die vierte Riege, die schlechten Turner, die keine Freude haben an der Bewegung bei den Geräten und schon müde sind von den zwanzig Kniebeugen und ein wenig verwirrt und atemlos.
Nur Einer, der sonst der Allerletzte blieb bei solchen Anlässen, Karl Gruber, steht schon an den Kletterstangen, die in einer etwas dämmerigen Ecke des Saales, hart vor den Nischen, in denen die abgelegten Uniformröcke hängen, angebracht sind. Er hat die nächste Stange erfaßt und zieht sie mit ungewöhnlicher Kraft nach vorn, so daß sie frei an dem zur Übung geeigneten Platze schwankt. Gruber läßt nicht einmal die Hände von ihr, er springt auf und bleibt, ziemlich hoch, die Beine ganz unwillkürlich im Kletterschluß verschränkt, den er sonst niemals begreifen konnte, an der Stange hängen. So erwartet er die Riege und betrachtet - wie es scheint - mit besonderem Vergnügenden erstaunten Ärger des kleinen polnischen Unteroffiziers, der ihm zuruft, abzuspringen. Aber Gruber ist diesmal sogar ungehorsam und Jastersky, der blonde Unteroffizier, schreit endlich: »Also, entweder Sie kommen herunter oder Sie klettern hinauf, Gruber! Sonst melde ich dem Herrn Oberlieutenant...« Und da beginnt Gruber, zu klettern, erst heftig mit Überstürzung, die Beine wenig aufziehend und die Blicke aufwärts gerichtet, mit einer gewissen Angst das unermeßliche Stück Stange abschätzend, das noch bevorsteht. Dann verlangsamt sich seine Bewegung; und als ob er jeden Griff genösse, wie etwas Neues, Angenehmes, zieht er sich höher, als man gewöhnlich zu klettern pflegt.
Er beachtet nicht die Aufregung des ohnehin gereizten Unteroffiziers, klettert und klettert, die Blicke immerfort aufwärts gerichtet, als hätte er einen Ausweg in der Decke des Saales entdeckt und strebte danach, ihn zu erreichen.
Die ganze Riege folgt ihm mit den Augen. Und auch aus den anderen Riegen richtet man schon da und dort die Aufmerksamkeit auf den Kletterer, der sonst kaum das erste Dritteil der Stange keuchend, mit rotem Gesicht und bösen Augen erklomm. »Bravo, Gruber!« ruft jemand aus der ersten Riege herüber. Da wenden viele ihre Blicke aufwärts, und es wird eine Weile still im Saal, - aber gerade in diesem Augenblick, da alle Blicke an der Gestalt Grubers hängen, macht er hoch oben unter der Decke eine Bewegung, als wollte er sie abschütteln; und da ihm Das offenbar nicht gelingt, bindet er alle diese Blicke oben an den nackten eisernen Haken und saust die glatte Stange herunter, so daß alle immer noch hinaufsehen, als er schon längst, schwindelnd und heiß, unten steht und mit seltsam glanzlosen Augen in seine glühenden Handflächen schaut. Da fragt ihn der eine oder der andere der ihm zunächst stehenden Kameraden, was denn antworten zu wollen, aber er überlegt es sich und senkt schnell die Augen. Und dann, als das Geräusch und Getöse wieder seinen Fortgang hat, zieht er sich leise in die Nische zurück, setzt sich nieder, schaut ängstlich um sich und holt Atem, zweimal rasch, und lacht wieder und will was sagen... aber schon achtet niemand mehr seiner. Nur Jerome, der auch in der vierten Riege ist, sieht, daß er wieder seine Hände betrachtet, ganz darüber gebückt wie einer, der bei wenig Licht einen Brief entziffern will. Und er tritt nach einer Weile zu ihm hin und fragt: »Hast du dir weh getan?« Gruber erschrickt. »Was?« macht er mit seiner gewöhnlichen, in Speichel watenden Stimme. »Zeig mal!« Jerome nimmt die eine Hand Grubers und neigt sie gegen das Licht. Sie ist am Ballen ein wenig abgeschürft. »Weißt du, ich habe etwas dafür,« sagt Jerome, der immer Englisches Pflaster von zu Hause geschickt bekommt, »komm dann nachher zu mir.« Aber es ist, als hätte Gruber nicht gehört; er schaut geradeaus in den Saal hinein, aber so, als sähe er etwas Unbestimmtes, vielleicht nicht im Saal, draußen vielleicht, vor den Fenstern, obwohl es dunkel ist, spät und Herbst.

Romane

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge - "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" ist Rilkes einziges längeres Prosawerk. Malte, ein junger Däne aus bester Familie, lebt in Paris unter bedrückenden Verhältnissen. Er erlebt die moderne Stadt von ihren unmenschlichen Seiten und reflektiert über das Dasein als Künstler und seine eigene Kidheit. "Eine der großen Durchbruchleistungen der modernen Literatur." (H.E. Holthusen).