4. Die verkleidete Wahrheit

Da die Wahrheit oft unerträglich ist und auf erbitterten Widerstand stößt, zudem das “unverblümte" Vorhalten einer unangenehmen Wahrheit gefährlich werden kann, überwindet die Fabel den Widerstand des Adressaten, indem sie die bloßzustellenden Kriterien vom menschlichen Bereich auf den nichtmenschlichen überträgt und sie in ein anderes, buntes Gewand hüllt.
Die Fabel ist somit ein “vorzügliches Kampfmittel in der politischen, sozialen und religiösen Auseinandersetzung".
Die Übertragung auf den nichtmenschlichen Bereich dient somit nicht allein der Anschaulichkeit, sie bedeutet zugleich einen Schutz für den Erzähler, denn im Narrengewand darf man unter Umständen auch einem Tyrannen die Wahrheit unter die Nase reiben - eine Wahrheit, die man ihm direkt niemals zu sagen wagte.

Martin Luther - Über die Fabel
Alle Welt hasset die Wahrheit, wenn sie einen trifft.
Darum haben weise hohe Leute die Fabeln erdichtet und lassen ein Tier mit dem anderen reden, als wollten sie sagen: Wohlan, es will niemand die Wahrheit hören noch leiden, und man kann doch der Wahrheit nicht entbehren, so wollen wir sie schmücken und unter einer lustigen Lügenfarbe und lieblichen Fabeln kleiden; und weil man sie nicht will hören aus Menschenmund, daß man sie doch höre aus Tier- und Bestienmund.
So geschieht's denn, wenn man die Fabeln liest daß ein Tier dem andern, ein Wolf dem andern die Wahrheit sagt, ja zuweilen der gemalte Wolf oder Bär oder Löwe im Buch dem rechten zweifüßigen Wolf und Löwen einen guten Text heimlich liest, den ihm sonst kein Prediger, Freund noch Feind legen dürfte.

Magnus Gottfried Lichtwer - Die beraubte Fabel
Es zog die Göttin aller Dichter,
Die Fabel, in ein fremdes Land,
Wo eine Rotte Bösewichter
Sie einsam auf der Straße fand.
Ihr Beutel, den sie liefern müssen,
Befand sich leer; sie soll die Schuld
Mit dem Verlust der Kleider büßen.
Die Göttin litt es mit Geduld.
Mehr, als man hoffte, ward gefunden,
Man nahm ihr Alles; was geschah?
Die Fabel selber war verschwunden,
Es stand die bloße Wahrbeit da.
Beschämt fiel hier die Rotte nieder,
Vergib uns, Göttin, das Vergehn,
Hier hast du deine Kleider wieder,
Wer kann die Wahrheit nackend sehn?