3. Wirklichkeitsbezug und Aussageabsicht
der Fabel
Die Fabel wird in einer konkreten Situation und mit einer bestimmten Absicht
erzählt. Am Beispiel des sagenumwobenen phrygischen Sklaven “Aesop",
dessen Fabeln untrennbar mit seinem Lebenslauf verbunden sind, läßt
sich anschaulich der Realitätsbezug und die didaktisch - kritische Absicht
der Fabel aufzeigen. Dabei ist nicht einmal mit Sicherheit belegt, ob Aesop
wirklich gelebt hat, oder ob er nur eine “Verkörperung des fabulierenden
griechischen Volksgeistes" ist.
In der legendären Darstellung des Aesopromans erscheint Aesop als ein körperlich
mißgestalteter Mensch, der von der Göttin Isis mit Weisheit und Redegewandtheit
ausgestattet wurde. Mit diesen Eigenschaften versehen, zog Aesop durch die Länder
Kleinasiens und Griechenlands - und erzählte seine Fabeln, in denen er
soziale Ungerechtigkeiten und menschliches Fehlverhalten anprangerte. Selbst
den Mächtigen gegenüber äußerte er Kritik in Form geistreicher
Fabeln, und er versuchte, deren Verhalten durch seine Lehren zu beeinflussen.
Dabei ergriff Aesop stets die Partei der Schwachen, Unterdrückten oder
Mißhandelten.
Seine kritische Haltung brachte Aesop häufig in Konflikt mit der Obrigkeit.
Doch selbst in schwierigen Situationen äußerte er im Schutz der Fabeln
seine Kritik. In Delphi geriet Aesop so in Streit mit der Priesterschaft, die
seinen Einfluß auf das Volk fürchtete. Aus Angst vor dem Volk ließen
die Priester ihn heimlich verhaften: Sie hatten eine goldene Schale aus dem
Tempel des Apoll in sein Reisegepäck geschmuggelt und ihn als gemeinen
Kirchenräuber verleumdet. Aesop wurde in den Kerker geworfen und zum Tode
verurteilt.
Auf dem Weg zum Felsen, von dem Aesop hinabgestürzt werden sollte, erzählte
er die berühmt gewordene Fabel von “Maus und Frosch" - einerseits
in der Absicht, seine eigene Situation zu veranschaulichen; andererseits, um
die Priester zu warnen und sie von ihrem Vorhaben abzubringen.
Heinrich Steinhöwel - Aesop in Delphi mit
Aesops Fabel von Maus und Frosch
Als Aesop einmal durch Griechenland zog und überall durch seine Fabeln
seine Weisheit zeigte, erwarb er sich den Ruf, ein sehr weiser Mann zu sein.
Zuletzt kam er nach Delphi, der angesehenen Stadt und dem Sitz der obersten
Priesterschaft. Dort folgten ihm viele Menschen, weil sie ihm zuhören wollten;
von den Priestern aber wurde er nicht ehrenvoll empfangen. Da sagte Aesop: “Ihr
Männer von Delphi, ihr seid wie das Holz, das von dem Meer an den Strand
geschwemmt wird. Solange es fern ist, scheint es groß zu sein, wenn es
aber nahe herangekommen ist, dann sieht man, daß es in Wirklichkeit klein
ist. So ging es auch mir mit euch. Solange ich noch weit von eurer Stadt entfernt
war, dachte ich, daß ihr die Vornehmsten von allen wäret, jetzt aber,
in eurer Nähe, erkenne ich, daß ihr nicht viel taugt."
Als die Priester solche Reden hörten, sagten sie zueinander: “Dieser
Mann hat in anderen Städten eine große Anhängerschaft. Es könnte
sein, daß unter solcher üblen Nachrede unser Ansehen leidet oder
daß wir es sogar ganz verlieren. Wir müssen also auf unserer Hut
sein!"
Da beratschlagten sie, auf welche Weise sie ihn unter dem Vorwande, er sei ein
böser Kirchenräuber, töten könnten; denn sie wagten es wegen
des Volkes nicht, ihn (ohne einsichtigen Grund) öffentlich töten zu
lassen.
So ließen sie aufpassen, bis der Knecht Aesops die Sachen seines Herrn
für die Abreise zusammenpackte. Da nahmen sie eine goldene Schale aus dem
Tempel des Apoll und versteckten sie heimlich im Reisegepäck Aesops.
Aesop wußte von all den hinterhältigen Machenschaften nichts, die
gegen ihn im Gange waren, und als er nach Phokis zog, eilten die Priester ihm
nach und nahmen ihn mit großem Geschrei gefangen. Und als Aesop sie fragte,
warum sie ihn gefangen nähmen, schrien sie: “Du unanständiger
Mensch, du Verbrecher! Warum hast du den Tempel des Apoll beraubt?"
Als Aesop vor allen leugnete und sich über diese Beschuldigung entrüstete,
öffneten die Priester sein Bündel und fanden die goldene Schale. Die
zeigten sie jedem einzelnen und führten Aesop wie einen Kirchenräuber
ungestüm und unter großem Tumult ins Gefängnis.
Aesop wußte auch da noch nichts von all den hinterhältigen Anschlägen,
die man gegen ihn ins Werk gesetzt hatte, und bat, man möge ihn freilassen.
Sie aber bewachten ihn daraufhin nur noch schärfer, [...] verurteilten
ihn öffentlich, weil er sich des Kirchenraubs schuldig gemacht habe, und
führten ihn aus dem Gefängnis, um ihn von einem Felsen hinabzustoßen.
Als Aesop das merkte, sprach er zu ihnen:
Zu der Zeit, als die unvernünftigen Tiere noch in Frieden miteinander lebten,
gewann eine Maus einen Frosch lieb und lud ihn zum Nachtmahl ein. Sie gingen
miteinander in die Speisekammer eines reichen Mannes, in der sie Brot, Honig,
Feigen und mancherlei leckere Sachen fanden. Da sprach die Maus zum Frosch:
“Nun iß von diesen Speisen, welche dir am besten schmekken!"
Als sie sich nach Herzenslust satt gefressen hatten, sprach der Frosch zu der
Maus: “Nun sollst du auch meine Speisen versuchen. Komm mir mir! Weil
du aber ni~ht schw,-nmen kannst, will ich deinen Fuß an meinen binden,
damit dir kein Leid geschieht." Als er aber die Füße zusammengebunden
hatte, sprang der Frosch ins Wasser und zog die Maus mit sich hinab. Als die
Maus merkte, daß sie sterben mußte, begann sie zu schreien und klagte:
“Ich werde ohne Schuld das Opfer gemeiner Hinterlist. Aber von denen,
die am Leben bleiben, wird einer kommen, der meinen Tod rächt."
Während sie das sagte, kam ein Habicht heran, ergriff die Maus und den
Frosch und fraß sie beide.
So werde ich ohne Schuld von euch getötet, und ihr werdet um der Gerechtigkeit
willen dafür bestraft, wenn Babylon und Griechenland über das Verbrechen
reden werden, das ihr an mir begeht.
Obwohl die Priester das hörten, ließen sie ihn nicht los, sondern
führten ihn an die Stelle, wo er sterben sollte.
Der Verlauf der Fabel ist der realen Situation auffallend analog. In der Realität
ist es die Priesterschaft, die den unschuldigen Dichter ums Leben bringt; in
der Fabel ist es der Frosch, der der Maus zum Verhängnis wird.
Kennzeichnend ist, daß Maus und Frosch fest aneinander gebunden sind und
so gemeinsam das gleiche Schicksal erleiden. Der Habicht, der beide als Beute
fortträgt, wird zum Symbol für eine höhere Gerechtigkeit: er
sühnt unverzüglich das an der Maus begangene Unrecht.
Auf die Realität bezogen lehrt diese Fabel: Auch in der Wirklichkeit wird
es eine höhere Macht (in diesem Fall das Volk der Babylonier und Griechen)
geben, die Aesops Tod nicht ungesühnt lassen wird. So wie Maus und Frosch
schicksalhaft miteinander verbunden sind, so werden auch die Priester ihrem
Schicksal nicht entgehen, wenn sie ihn, Aesop, töten lassen.
In dem hier geschilderten Fall kämpft Aesop mit der Fabel für sich
selbst. Bei anderen Gelegenheiten nutzt er die Fabel im Kampf für die Unterdrückten.
So zeigt das Volksbuch vom phrygischen Sklaven Aesop einen Helden, der reale
soziale Zustände, politische Vorgänge oder menschliches Fehlverhalten
aufgreift, sie im Gewand der Fabel kritisiert und bewußt macht und so
auf Veränderung der Situation drängt.
Andere Fabeln Aesops zielen weniger auf konkrete Lebenssituationen, sondern
bringen eine allgemein anerkannte Lebensweisheit zum Ausdruck; sie stellen also
mehr das belehrende als das kritisierende Element in den Vordergrund, indem
sie ethische oder moralische Lehren erteilen.
Bedenkt man, daß sich seit Phaedrus nahezu alle Fabeldichter auf die Fabeln
Aesops beziehen, ihre Motive, ihr Inventar, ihre Kompositionsprinzipien verwenden
und oft nur variieren, so können die aesopschen Fabeln wesentliche Aufschlüsse
für die Intentionalität und Kausalität der gesamten Fabeldichtung
geben.
Ein Vergleich von Fabeln, die in verschiedenen Versionen vorliegen, läßt
erkennen, daß oft nur eine kleine Variation genügt, um einen anderen
Realitätsbezug, eine andere Aussageabsicht zum Ausdruck zu bringen. Am
Beispiel der Fabel vom Fuchs und vom Raben kann das veranschaulicht werden:
Martin Luther - Vom Raben und Fuchs
Ein Rab' hatte einen Käse gestohlen und setzte sich auf einen hohen Baum
und wollte zehren. Da er aber seiner Art nach nicht schweigen kann, wenn er
ißt, hörte ihn ein Fuchs über dem Käse kecken und lief
zu und sprach: "O Rab', nun hab' ich mein Lebtag keinen schöneren
Vogel gesehen von Federn und Gestalt, denn du bist. Und wenn du auch so eine
schöne Stimme hättest zu singen, so sollt' man dich zum König
krönen über alle Vögel."
Den Raben kitzelte solch Lob und Schmeicheln, fing an und wollt' seinen schönen
Gesang hören lassen. Und als er den Schnabel auftat, entfiel ihm der Käse;
den nahm der Fuchs behend, fraß ihn und lachte des törichten Raben.
Gotthold Ephraim Lessing - Der Rabe und der Fuchs
Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisch, das der erzürnte Gärtner
für die Katzen seines Nachbars hingeworfen hatte, in seinen Klauen fort.
Und eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich ein Fuchs herbeischlich
und ihm zurief: "Sei mir gesegnet, Vogel des Jupiter!" - "Für
wen siehst du mich an?" fragte der Rabe. - "Für wen ich dich
ansehe?" erwiderte s der Fuchs. "Bist du nicht der rüstige Adler,
der täglich von der Rechte des Zeus auf diese Eiche herabkömmt, mich
Armen zu speisen? Warum verstellst du dich? Sehe ich denn nicht in der siegreichen
Klaue die erflehte Gabe, die mir dein Gott durch dich zu schicken noch fortfährt?"
Der Rabe erstaunte und freuete sich innig, für einen Adler gehalten zu
werden. ,Ich muß' dachte er, ,den Fuchs aus diesem Irrtume nicht bringen.'
- Großmütig dumm ließ er ihm also seinen Raub herabfallen und
flog stolz davon.
Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf und fraß es mit boshafter Freude.
Doch bald verkehrte sich die Freude in ein schmerzhaftes Gefühl; das Gift
fing an zu wirken und er verreckte.
Möchtet ihr euch nie etwas anders als Gift erloben, verdammte Schmeichler!
James Thurber - Der Fuchs und der Rabe
Der Anblick eines Raben, der auf einem Baum saß, und der Geruch des Käses,
den er im Schnabel hatte, erregten die Aufmerksamkeit eines Fuchses.
"Wenn du ebenso schön singst, wie du aussiehst", sagte er, "dann
bist du der beste Sänger, den ich je erspäht und gewittert habe."
Der Fuchs hatte irgendwo gelesen - und nicht nur einmal, sondern bei den verschiedensten
Dichtern daß ein Rabe mit Käse im Schnabel sofort den Käse fallen
läßt und zu singen beginnt, wenn man seine Stimme lobt. Für
diesen besonderen Fall und diesen besonderen Raben traf das jedoch nicht zu.
"Man nennt dich schlau, und man nennt dich verrückt", sagte der
Rabe, nach dem er den Käse vorsichtig mit den Krallen seines rechten Fußes
aus dem Schnabel genommen hatte. "Aber mir scheint, du bist zu allem Überfluß
auch noch kurzsichtig. Singvögel tragen bunte Hüte und farbenprächtige
Jacken und helle Westen, und von ihnen gehen zwölf aufs Dutzend. Ich dagegen
trage Schwarz und bin absolut einmalig."
"Ganz gewiß bist du einmalig", erwiderte der Fuchs, der zwar
schlau, aber weder verrückt noch kurzsichtig war.
"Bei näherer Betrachtung erkenne ich in dir den berühmtesten
und talentiertesten aller Vögel, und ich würde dich gar zu gern von
dir erzählen hören. Leider bin ich hungrig und kann mich daher nicht
länger hier aufhalten."
"Bleib doch noch ein Weilchen", bat der Rabe. "Ich gebe dir auch
etwas von meinem Essen ab."
Damit warf er dem listigen Fuchs den Löwenanteil vom Käse zu und fing
an, von sich zu erzählen.
"Ich bin der Held vieler Märchen und Sagen", prahlte er, "und
ich gelte als Vogel der Weisheit. Ich bin der Pionier der Luftfahrt, ich bin
der größte Kartograph. Und was das Wichtigste ist, alle Wissenschaftler
und Gelehrten, Ingenieure und Mathematiker wissen, daß meine Fluglinie
die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten ist. Zwischen beliebigen
zwei Punkten", fügte er stolz hinzu.
"Oh, zweifellos zwischen allen Punkten", sagte der Fuchs höflich.
"Und vielen Dank für das Opfer, das du gebracht, indem du mir den
Löwenanteil verso macht."
Gesättigt lief er davon, während der hungrige Rabe einsam und verlassen
auf dem Baum zurückblieb.
Moral: Was wir heut wissen, wußten schon Aesop und La Fontaine:
Wenn du dich selbst lobst, klingt's erst richtig schön.
In der älteren Fassung Martin Luthers gelingt es dem schmeichelnden Fuchs,
dem ebenso einfältigen wie selbstgefälligen Raben ein Stück Käse
zu entlocken. Der Fuchs wird hier für seine Schmeichelei belohnt - der
Dumme ist der Rabe, der allzu gern auf die Schmeicheleien des Fuchses hereinfällt.
Bestraft wird hier also die Eitelkeit und Selbstgefälligkeit, gegen die
sich diese Version der Fabel vom Fuchs und Raben richtet.
In der Version Lessings ist der Käse aber vergiftet! Der Fuchs stirbt an
seiner Beute. Während Luthers Fabel die Situation des Feudalismus widerspiegelt
(es siegt der Klügere), ist die Situation bei Lessing anders: der sonst
Unterlegene erscheint als der durch Zufall Glücklichere. Der Schlaue ist
auf Erden zwangsläufig doch nicht immer der Glücklichere, weil auch
er dem Willen des Schicksals unterliegt - und dieses wendet sich hier klar gegen
die Heuchler und Schleimer.
Der Vergleich der Lutherschen Version der Fabel vom Raben und vom Fuchs mit
der Lessingschen offenbart zum einen, daß oft nur eine Änderung eines
kleinen Details ausreicht, um zu einer veränderten Aussage der Fabel zu
kommen - und zum anderen, daß sich die Fabel dem gesellschaftlich - politischen
Wandel der Zeiten anpaßt: Die politische und ökonomische Führung
geht langsam vom Adel auf das Bürgertum über. Hierin ist ein übergeordneter
intentionaler Aspekt der Fabeldichtung zu sehen: Es läßt sich die
Entwicklung des gesellschaftlichen Gesamtprozesses an der analogen Entwicklung
der Fabelliteratur nachvollziehen. Dies gelingt zwar auch mit anderen Literaturgattungen,
aber mit Hilfe der Fabel ist es einfacher aufzuzeigen.
Zusammenfassend läßt sich zum Wirklichkeitsbezug und zur Aussageabsicht
der Fabel feststellen, daß eine echte Fabel immer auf eine konkrete Situation
(unter Umständen auch eine vom Dichter vorgegebene) bezogen ist. Der Sinn
der Fabel besteht demnach darin, eine bestimmte Situation anhand eines anschaulichen
Bildes zu verdeutlichen, zu kritisieren und auf Veränderung zu drängen.
Die Fabel will menschliche Eigenarten, Denkweisen, zwischenmenschliche Beziehungen,
soziale Ungerechtigkeiten und bestimmte Zeitmerkmale schlaglichtartig und pointiert
erhellen.
Sie ist in ihrem Wesen existenz- und gesellschaftskritisch, und ihre Grundhaltung
ist die entschiedene Bejahung sozialer und moralischer Werte. In diesem Sinne
dient die Fabel der Erkenntniserhellung und dem Finden von Wahrheit.